Man kann Manufacturing-X anhand einer Zahl erklären: 97 Prozent. So groß ist der Anteil der Rohstoffe in einer Batterie, die recycelt werden könnten. Allerdings müsste man dafür von jeder Batterie wissen, welche Elemente genau in der Herstellung eingesetzt wurden und wofür sie verwendet wurden. Derzeit weiß man das nicht. Man weiß auch nicht, wo sich in einer Lieferkette dieses oder jenes Material, das dringend für die Fertigung benötigt wird, genau befindet. Oder wie hoch eigentlich die CO2-Bilanz eines Produkts ist. Weil jeder Akteur in der Lieferkette sein eigenes Süppchen kocht und die Kommunikation spätestens beim Warenausgang endet.
„Maschinen können noch nicht miteinander reden, auch wenn das immer wünschenswerter wird“, sagt Henning Banthien, Generalsekretär der Plattform Industrie 4.0. Zwar zeichnen Maschinen jede Menge Informationen auf, meist geben sie diese aber nicht weiter. Dabei könnten nicht nur die Unternehmen, sondern die globale Volkswirtschaft davon profitieren, wenn Lieferketten nachhaltiger werden und Materialien ressourcenschonend eingesetzt werden können. Wie wichtig der Austausch von Daten ist, hat auch die Europäische Union erkannt und den European Data Act beschlossen. Das Ziel: Europa soll sich gegen die USA und China behaupten, Digitalisierung ist der Schlüssel dafür. Unternehmen müssen deshalb künftig mehr Daten zur Verfügung stellen. Das Problem daran ist nur, dass viele sich davor scheuen, ihre sensiblen Informationen mit anderen zu teilen.
Eine Initiative aus Unternehmen, Politik und Interessensvertretern hat dafür eine Lösung vorgestellt: Manufacturing-X, eine Plattform für den sicheren, verantwortungsvollen Datenaustausch in der Industrie. Zu den Anwendungen von Manufacturing-X gehören unter anderem die vorausschauende Wartung von Maschinen, die digitale Vernetzung der gesamten Lieferkette, die Integration von Echtzeitdaten in Produktionsprozesse und die Nutzung von virtuellen Simulationen für die Planung und Optimierung der Produktion. So können Unternehmen zum Beispiel auf Störungen in Lieferketten frühzeitig reagieren, die Produktion schneller anpassen, Lieferverzögerungen vermeiden und damit insgesamt nachhaltiger und kostengünstiger produzieren.
„Viele Daten werden schon längst aufgezeichnet, aber bisher findet nur ein punktueller Austausch entlang der Lieferkette statt. Durch eine stärkere datenbasierte Vernetzung könnten viele kundenorientierte Dienste angeboten werden, was wiederum den Unternehmen dabei hilft, wettbewerbsfähiger zu werden“, sagt Ralf Wintergerst, BITKOM-Präsident.
Für die meisten Industrieunternehmen ist Manufacturing-X nichts Neues. Im Rahmen der Initiative Industrie 4.0 entwickeln sie seit über zehn Jahren digitale Technologien. Diese jetzt auch verantwortungsvoll in die Anwendung zu bringen, ist ein Ziel von Manufacturing-X. „Industrie 4.0 ist die Grundlage, Manufacturing-X die logische Konsequenz daraus“, sagt Wintergerst.
Die digitale Plattform von Manufacturing-X mit Datenräumen für den unternehmensübergreifenden Datenaustausch funktioniert allerdings anders als die Cloudanwendungen, die die meisten Menschen täglich benutzen. Statt die Daten zentral auf einen Server hochzuladen und damit die Hoheit darüber abzugeben, verbleiben die Informationen auf den firmeneigenen Servern, die Unternehmen behalten die Kontrolle und entscheiden individuell, wer welchen Zugriff in welchem Zeitrahmen und auf welche Art bekommen kann. „Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Unternehmen steht dabei im Fokus, wobei die Bereitschaft, Daten freiwillig zu teilen, zentral ist. Das ebnet den Weg zu einer datenbasierten Wirtschaft“, sagt Wintergerst.
„Die Schaffung eines derartigen Safe Space für den Datenaustausch ist ein wichtiger Schritt für die Industrie in Deutschland“, bestätigt Florian Ploner, Sektorleiter für das produzierende Gewerbe bei Deloitte. „Die weitere Digitalisierung der Industrie birgt ein enormes Potenzial für die Unternehmen. Das gilt einerseits für die Stärkung des eigenen Geschäfts, aber auch für so zentrale Herausforderungen wie die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft.“ Für diesen Wandel sei der vertrauensvolle Austausch von Daten eine wesentliche Grundlage, so Ploner. Noch ist Manufacturing-X im Konzeptstatus, ein sogenannter Lenkungskreis unter dem Dach der Plattform Industrie 4.0, bestehend aus etwa 30 Vertretern von Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften und Wissenschaftsorganisationen, leitet die Initiative. Noch im Juli soll die Förderrichtlinie für Manufacturing-X-Projekte veröffentlicht werden, sodass möglicherweise bereits Ende des Jahres erste Projekte anfinanziert werden können. Im Bundeshaushalt ist für die Förderung eine Summe von 152 Millionen Euro vorgesehen. Mit einer Umsetzung der ersten Förderprojekte rechnen die Beteiligten in zwei bis drei Jahren.
In der Zwischenzeit werden Beispielanwendungen ausgearbeitet, damit möglichst viele Unternehmen Lust bekommen, sich an Manufacturing-X zu beteiligen. Entscheidend ist dabei vor allem der Mittelstand. „Es gibt einen Grund dafür, warum der deutsche Maschinenbau einen so hohen Stellenwert hat auf der Welt“, sagt Hartmut Rauen, stellvertretender VDMA-Hauptgeschäftsführer. Die meisten Unternehmen hätten weniger als 250 Beschäftigte, trotzdem seien viele Marktführer in ihrem Bereich. Sie verfügten über eine hohe Kompetenz – und wollten diese schützen, so Rauen. „Es gab in der Vergangenheit große Hürden, die gesammelten Daten auch zu teilen, weil die Unternehmen ihre Hoheit nicht verlieren wollten. Mit Manufacturing-X können sie nun selbst bestimmen, welche Informationen sie teilen möchten, ohne diese an einem zentralen Ort hochzuladen. Das ist epochal, eine Zeitenwende.“
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Mit einem solchen basisdemokratischen Ökosystem gewännen die Industrieunternehmen – kleine wie große – nicht nur mikroökonomische Souveränität, auch die Volkswirtschaft werde profitieren, weil eben nicht wenige internationale Hyperscaler zentrale Plattformen aufbauen, die dann alle anderen dominieren. „Die Gewinner von Manufacturing-X sind eindeutig die KMU“, sagt Rauen.
Die Autobranche hat bereits vor zwei Jahren begonnen, sich mit Catena-X ein Datenökosystem zu bauen, das die gesamte Wertschöpfungskette digital abbilden soll. So könnte zum Beispiel auf Knopfdruck abgerufen werden, wie hoch die CO2-Emissionen bei der Produktion eines Autos sind, aber auch welche Rohstoffe konkret verwendet wurden. Mit Catena-X soll die Nachverfolgbarkeit von Produkten und ihren Teilen ermöglicht werden, was wiederum für das Recycling und das Schließen des Wertschöpfungskreislaufs nötig ist.
Überträgt man das Konzept auf die Industrie, wird das ungleich komplizierter – vor allem wenn andere Länder ins Spiel kommen. Wertschöpfungsketten sind heute zumeist global, auch Mittelständler arbeiten mit Partnern und Unternehmen auf der ganzen Welt zusammen. „Manufacturing-X und Catena-X sind wichtige Impulse für den internationalen Markt und Deutschland kann sich hier als Impulsgeber etablieren“, sagt Henning Banthien, Generalsekretär der Plattform Industrie 4.0. Die Initiative ist von Anfang an darauf ausgelegt, schnell zu internationalisieren, weshalb immer wieder Gespräche mit Vertretern anderer Länder sowohl in Europa wie auch darüber hinaus stattfinden. Auch hier spielt der Mittelstand eine große Rolle. „In vielen Ländern sind kleine und mittelständische Unternehmen ebenfalls wichtige Akteure, die ihre Daten nicht an einzelne Großkonzerne abgeben wollen. Das internationale Interesse, eine solche Plattform zu schaffen, ist deshalb groß.“
omatisierung kann dabei vor allem für kleinere Unternehmen eine Chance sein. Sie stehen plötzlich nicht mehr allein da, sondern profitieren als einer von vielen Teilen von der digitalisierten Wertschöpfungskette. Viele KMU haben nicht die Arbeitskräfte, um die Firmware jeder einzelnen Maschine permanent auf dem neuesten Stand zu halten. Sollte es derzeit zu einem Problem in einer Komponente kommen, kann der Hersteller der Komponente dieses zwar beheben, aber nicht mit den Maschinen überall auf der Welt kommunizieren, damit diese das Sicherheitsupdate bekommen. Über einen Datenraum der Manufacturing-X-Plattform könnte dieses Problem jedoch voll automatisiert behoben werden – ohne dass die KMU sich selbst darum kümmern müssen.
Solche Fallbeispiele sollen die Unternehmen vom Nutzen der Plattform überzeugen. Besonders wichtig ist Henning Banthien dabei, dass es um mehr geht als nur die Vorteile jedes einzelnen Akteurs. „Wir müssen weg vom Egosystem und hin zu einem gemeinsamen Gedanken als Ecosystem.“ Das stärke nicht nur die einzelnen Unternehmen, sondern die gesamte Industrie und ermögliche so auch eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft, von der am Ende alle profitierten. „Wenn wir es schaffen, dass Maschinen miteinander kommunizieren, wenn wir gemeinsame Standards aufsetzen und Datenaustausch ermöglichen, dann hat das einen riesigen Impact.“