Herr Dr. Mayer-Schönberger, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Datenökonomie. Was genau ist das, und wie wirkt es sich auf unsere Gesellschaft aus?
Dr. Viktor Mayer-Schönberger › Datenökonomie ist eigentlich etwas ziemlich Einfaches. Das bedeutet nichts anderes, als dass Daten immer stärker das Rohmaterial werden, aus dem wir neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln, Innovation schaffen und ökonomischen Mehrwert generieren.
»Der Nutzen der Daten und damit der ökonomische und gesellschaftliche Mehrwert wird nicht durch das Bunkern erzielt wie bei Gold oder Diamanten, sondern ausschließlich durch deren Verwendung.«
Lassen Sie uns diese Analogie weiterdenken: Rohstoffe sind wertvoll, um sie entbrennen Kriege. Ist es dann ein richtiges Rezept in der Datenökonomie, meinen Datenschatz so gut wie möglich zu schützen? Oder müsste ich dafür sorgen, Daten mit anderen zu teilen und gemeinsam zu profitieren?
Mayer-Schönberger › Das ist der springende Punkt. Aufgrund der Erfahrungen, die wir in der physischen Wirklichkeit gemacht haben, sind wir davon überzeugt, dass es sich lohnt, wertvolle Dinge ganz alleine zu besitzen. Deswegen glauben viele Menschen und viele Unternehmen, dass es bei Daten ganz genauso ist. Dass man Daten sammeln und am besten im Keller bunkern sollte, bis sie so wertvoll sind, dass man sie gewinnbringend verkaufen kann. In Wirklichkeit verhält es sich genau andersherum. Der Nutzen der Daten und damit der ökonomische und gesellschaftliche Mehrwert wird nicht durch das Bunkern erzielt wie bei Gold oder Diamanten, sondern ausschließlich durch deren Verwendung.
Dann funktioniert die Analogie von Daten als neuem Öl auch nicht, oder?
Mayer-Schönberger › Nein, denn sie „verbrennen“ ja nicht, wenn man sie nutzt. Im Gegenteil. Sie werden immer wertvoller, je öfter und vielfältiger man sie verwendet. Und da ich selbst oft nicht weiß, wie ich die Daten, die ich gesammelt habe, mehrfach nutzen kann, ist es besser, ich mache sie anderen zugänglich. Nur dann gewinnt man Einsichten, die bessere Produkte, Dienstleistungen und letztlich bessere individuelle und gesellschaftliche Entscheidungen erlauben. Wer nicht versteht, dass Daten genutzt werden müssen und nicht bloß gesammelt werden sollen, der hat die Datenökonomie nicht begriffen, sondern ist im Kopf noch viel zu sehr verankert in der traditionellen Ökonomie.
Das ist dann auch ein Plädoyer für den Begriff der Open Innovation, wonach Unternehmen dann am innovationsstärksten sind, wenn sie mit anderen zusammenarbeiten. Steht uns da nicht die deutsche Mentalität eines Innovationsweltmeisters im Wege, der gleichzeitig die meisten Patente hält?
Mayer-Schönberger › Ja, da steht uns die alte Idee der Industriegesellschaft und der Industrialisierung des 20. Jahrhunderts im Wege. Im Datenzeitalter sind jene am innovativsten, die ihre Ideen mit Hilfe der Daten umsetzen können. Daten werden benötigt, um Algorithmen zu trainieren und KI-Systeme entwickeln zu können. Dafür brauchen wir den Zugang zu den Daten. Gerade den kleinen und mittelständischen Unternehmen, die große Ideen haben, fehlt es an Zugang zu diesen Daten. Was dazu führt, dass sie ihre Ideen nicht umsetzen können, allenfalls hoffen dürfen, dass sie von größeren Unternehmen aufgekauft werden, wie es im Silicon Valley ständig passiert. Aber das kann nicht die Zukunft Europas sein. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Verständnis, dass Innovation nur dann breit geschaffen werden kann, wenn Daten zugänglich werden. Denn nur dann schaffen wir einen Anreiz, Daten nicht nur zu nutzen, sondern dies auf originelle, innovative, neuartige Weise zu tun. Genau das passiert aber in Europa nicht, weil wir nur 15 Prozent der Daten, die wir sammeln, nutzen.
Warum regelt das der Markt nicht selbst? Müsste der Staat hier stimulierend eingreifen?
Mayer-Schönberger › Das Problem eines Datenmarktes ist nicht nur, dass es kein entsprechendes Eigentumsrecht gibt, und selbst wenn wir es schaffen würden, wüssten wir nicht, wie wir es durchsetzen könnten. Es gibt auch ökonomische Probleme. Bei den Daten weiß ich von vornherein nicht genau, was sie wert sind. Denn der Wert entsteht erst durch die Nutzung. Darum kann sich kein Preis bilden und letztlich auch kein effektiver Markt. Wir müssen verstehen, dass wir keinen Anreiz brauchen für das Datensammeln und -verkaufen, sondern für das Nutzen von Daten.
Sie verwenden auch den Begriff „Datenkapitalismus“. Was ist damit gemeint?
Mayer-Schönberger › Das soll darauf hindeuten, dass Daten inzwischen ein wenig die Rolle des Kapitals übernehmen. Das deutsche Wirtschaftswunder und die heutige Innovationskraft der klein- und mittelständischen Unternehmen in Deutschland verdanken wir nicht nur dem European Recovery Program nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern später auch dem Einsatz von Venture Capital. So sind ausreichend viele Gelder in die Forschung und Entwicklung innovativer Ideen geflossen, ohne die die heutigen revolutionären Fortschritte im Bereich der Digitalisierung und Biogenetik nicht möglich gewesen wären. Jetzt erleben wir eine ökonomische Dynamik, die in ihrem Kern nicht auf den Zugang zu Kapital, sondern zu Daten angewiesen ist. Wir brauchen also eine breitere Zugänglichkeit zu den Daten, vielleicht sogar eine Datensubvention für Unternehmen, damit sie in der Datenökonomie eine Chance haben.