Oliver Bendig: Frau Erlinghagen, lassen Sie uns mit dem großen Ganzen starten. Wie beurteilen Sie den Stand der Digitalisierung in der deutschen Wirtschaft – auch im internationalen Vergleich?
Sabine Erlinghagen: Wenn wir die Digitalisierung in Fabriken betrachten, also den eigentlichen Produktionsprozess, dann stehen wir in Deutschland wirklich gut da. Weltweit nehmen wir im branchenvergleich eine Spitzenposition ein. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn wir über die Grenzen der Fabriken hinausschauen – da können wir sicherlich noch besser werden.
Bendig: Ich sehe das ähnlich. Die Industrie wird oft kritisiert, dabei passiert in der Fabrikhalle schon unheimlich viel. Die Herausforderungen sind dort schlicht komplexer als eine App zu bauen. Einen durchgehenden, digitalen Produktionsprozess aufzusetzen – das braucht Zeit.
Erlinghagen: Natürlich ist es auch nicht trivial, eine App zu entwickeln, aber ja: Oft wird Digitalisierung auf Konsumprodukte oder Glasfaserkabel reduziert. Was hingegen in der Industrie passiert, bleibt für viele weitestgehend unsichtbar. Dabei variiert es je nach Branche stark, wie weit die digitale Transformation fortgeschritten ist. In hochautomatisierten Bereichen wie der Halbleiterfertigung oder in der Automobilindustrie sind wir sehr weit, wohingegen ich bei Energiesystemen noch starkes Potenzial sehe.
Bendig: Was hindert uns in Deutschland daran, bei der Digitalisierung schneller zu werden?
Erlinghagen: Ein plakatives Beispiel: Deutschland ist weltweit Schlusslicht beim Smart-Meter-Rollout. Während unser Nachbarland Italien die Einführung bereits 2011 abgeschlossen hat, haben wir hier kaum begonnen. Die Gründe? Ein überbürokratisiertes System und ein Missverhältnis zwischen Risiken und Chancen. Uns fehlt die Balance zwischen gesundem Tatendrang und kritischer Reflexion. Wir diskutieren viel, handeln aber zu wenig.
Bendig: Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Industrie bleiben und den Fortschritt sichtbar machen: Wo in der Industrie ist die Digitalisierung heute bereits greifbar?
Erlinghagen: Mit Technologien wie digitalen Zwillingen beispielsweise simulieren wir Produktdesigns und ganze Produktionsstraßen, lange bevor sie real gebaut werden. Das spart nicht nur Material, sondern optimiert auch Prozesse und reduziert Einführungsfehler. Alles in allem wird so Innovation schneller in den Markt transportiert.
Bendig: Und der digitale Zwilling schafft Vorteile weit über die Fabrik hinaus: im Betrieb, in der Wartung und für das Geschäftsmodell. Connected Machines ermöglichen Pay-per-Use, also Abo-Modelle, statt des klassischen Verkaufs. Wo sehen Sie aktuell die größten Hebel für Digitalisierung – geht es primär um Effizienz oder besseren Kundennutzen?
Erlinghagen: Wenn ich auf die Stromnetze blicke – speziell auf die letzte Meile zum Endgebäude –, dann herrscht dort de facto Blindflug. Gerade dort, wo dezentrale Erzeugung, Elektrofahrzeuge oder Solaranlagen die Energie ins Netz einspeisen, fehlt oftmals Digitalisierung. Die Energiewende braucht dringend digitale Lösungen, um Netze zu steuern und die Effizienz. Letztlich lässt sich das Thema für jede Branche durchdeklinieren – Potenzial ist überall vorhanden.
Bendig: Absolut. Gerade in der Supply Chain liegt enormes Potenzial. Wenn Unternehmen anfangen, ihre Lieferketten digital sichtbar zu machen, entstehen ungeahnte Möglichkeiten. Plötzlich weiß ich, wo meine Rohstoffe sind, wo Halbfertigprodukte festhängen, ob ich umsteuern muss. Aber gerade außerhalb der Fabrik tun wir uns noch schwer.
Erlinghagen: Noch komplexer wird es, wenn wir den Blick über den Verkauf hinaus auf den gesamten Produktlebenszyklus richten. In einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft muss ich genau wissen, wo sich Produkte befinden, in welcher Version sie im Einsatz sind und wie ihre Performance aussieht. Nur so lassen sich Reparaturfähigkeit oder Wiederverwertung sinnvoll organisieren.
Bendig: Datenbasiertes Wissen ist enorm hilfreich. Für einen großen Automobilbauer konnten wir durch präzise digitale Nachverfolgung die Zahl der zurückgerufenen Fahrzeuge von 300.000 Autos auf 3.000 reduzieren. Digitalisierung zahlt sich da unmittelbar aus.
Erlinghagen: Ein treffendes Beispiel. Wenn ich an die Stromnetze denke, sprechen wir zum Teil von Kabeln, die vor 40, 50 oder gar 100 Jahren verlegt wurden. Oft wissen wir nicht, wo genau sie verlaufen oder in welchem Zustand sie sich befinden. Wenn dann rein vorsorglich ausgetauscht wird, kann das schnell Millionen kosten – ohne dass damit echte Sicherheit gewonnen wird. Unsere Kunden erleben immer wieder, wie auf dünner Datenbasis Entscheidungen getroffen werden müssen. Hier braucht es dringend verlässlichere Informationen.
Bendig: Über Daten wird ja sehr viel gesprochen. Wie ist Ihr Blick auf die Datenlandschaft der Unternehmen? Und vor allem: Wie gelingt die sinnvolle Nutzung?
Erlinghagen: Unternehmen stehen häufig vor einem dieser zwei Probleme: Entweder sie verfügen über viele Daten, können diese aber nicht sinnvoll interpretieren – oder sie haben schlicht zu wenig Daten. Im Energiesektor sehen wir beides: riesige Data Lakes ohne Digital Twin – also ohne Struktur – sowie Netze für die keinerlei Daten vorliegen. Dabei ist eine durchdachte Datenstrategie essenziell, um sowohl Datenflut als auch Datenmangel in steuerbare Prozesse zu überführen.
Bendig: Daten gelten als Schatz eines Unternehmens. Wird man reicher, wenn man ihn teilt?
Erlinghagen: In diesem Fall gibt es kein klares Schwarz-Weiß. Natürlich kann der Datenbesitz ein Wettbewerbsvorteil sein – etwa beim Training von KI oder zur Differenzierung. Aber wenn wir über neue Geschäftsmodelle oder Supply Chains sprechen, ist Kollaboration entscheidend. Innerhalb eines Unternehmens ist es essenziell, die Daten zu teilen – bei Siemens ist das festverankerte Praxis. Auch auf Nutzerseite wächst die Erwartung, dass Systeme offen und interoperabel sind. Der klassische Lock-in-Ansatz ist heute nicht mehr zeitgemäß.
Bendig: Gerade im Netzbereich sind die Daten ja stark verteilt. Häufig müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten, um überhaupt Erkenntnisse zu gewinnen.
Erlinghagen: Stromnetze sind ein Sonderfall – hier herrscht ein natürliches Monopol. Da es keine direkte Konkurrenz gibt, können Netzbetreiber untereinander Daten teilen. Gleichzeitig sind sie verpflichtet, diskriminierungsfrei mit allen Akteuren zusammenzuarbeiten. Das schafft besondere Dynamiken – und zeigt eindrucksvoll, welches Potenzial in echter Kollaboration steckt.
Bendig: Jetzt haben wir viel über Chancen gesprochen, aber die zunehmende Digitalisierung bringt auch Risiken mit sich. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Cybersicherheit? Werden die Risiken unterschätzt?
Erlinghagen: Cyberangriffe nehmen kontinuierlich zu und damit wächst auch die Verantwortung. Deshalb ist es entscheidend, mit Partnern zusammenzuarbeiten, die IT-Sicherheit konsequent mitdenken. Besonders in öffentlichen Infrastrukturen ist das unerlässlich. Je mehr wir Cloud-Technologien nutzen, desto stärker müssen wir auch unsere Sicherheitssysteme skalieren.
Bendig: Die Diskussion um eine souveräne Cloud wird lauter. Aber viele bleiben skeptisch. Was ist Ihr Eindruck?
Erlinghagen: Die letzten Monate haben deutlich gemacht, wie dringend wir mehr Unabhängigkeit brauchen. Unsere Abhängigkeit – insbesondere von den USA – ist enorm und stellt für kritische Infrastrukturen ein strategisches Risiko dar. Zwar ist Resilienz kostenintensiv, aber Effizienz allein reicht nicht mehr. Wir müssen verstehen lernen, dass Resilienz eine strategische Investition in Zukunftssicherheit ist. Adoption funktioniert dann, wenn der Nutzen klar und die Hürden niedrig sind. Social Media und ChatGPT sind Paradebeispiele dafür, denn ihre Verbreitung lief rasant. Ein digitaler Staat, der einfach funktioniert, ist in der Lage einen ähnlichen Effekt zu erzielen. Digitalisierung muss, intuitiv, einfach und vorteilhaft sein. Das ist die wirkungsvollste Form hin zur Überzeugung.
Bendig: Wer trägt die Verantwortung, den Wandel stärker voranzutreiben – Staat oder Wirtschaft?
Erlinghagen: Ich glaube nicht daran, einfach auf den Staat zu warten. Jeder – ob Unternehmen oder Einzelperson – trägt Verantwortung. Gleichzeitig muss der Staat aber seinen Teil beitragen. Es geht um geteilte Verantwortung. Wer nur abwartet, hat das falsche Mindset.
Bendig: Viele Unternehmen wirken digitalisierungsmüde. Wie nehmen Sie das wahr?
Erlinghagen: Studien zeigen: Rund die Hälfte der Unternehmen sieht sich auf einem ausgereiften Digitalisierungsniveau, etwa 40 Prozent stehen hingegen noch ganz am Anfang. Doch die digitale Transformation ist kein Projekt mit fixem Endpunkt – sie bleibt ein fortlaufender Prozess. Derzeit erleben wir einen tiefgreifenden Wandel, ausgelöst durch neue Technologien wie KI. Genau wie Elektrifizierung ist die Digitalisierung ein kontinuierlicher Innovationstreiber – für optimierten Kundenservice und mehr Effizienz. Wer das Ziel kennt, sieht auch Sinn – und daraus entsteht wahre Motivation.
Sabine Erlinghagen
Dr. Sabine Erlinghagen ist Chief Executive Officer (CEO) von Siemens Grid Software. In dieser Funktion leitet sie den gesamten Geschäftsbereich Grid Software innerhalb von Siemens Smart Infrastructure und trägt die Gesamtverantwortung für Strategie, Entwicklung, Vermarktung und Innovationsmanagement der Softwarelösungen für Stromnetzbetreiber weltweit.
Oliver Bendig
Oliver Bendig ist als Partner bei Deloitte verantwortlich für den Maschinen- und Anlagenbau und ein international anerkannter Experte für After Sales und Customer Service. Seit mehr als 20 Jahren berät er seine Kunden sehr erfolgreich von der Strategieentwicklung und Umsetzung bis zur gemeinsamen Realisierung der Resultate.