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Wirtschaft

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Ein gemeinsames Spielfeld ist entscheidend

Die Digitalisierung in der Gesundheitsbranche schreitet voran. Am 1. Juli 2021 soll die elektronische Patientenakte (ePA) bundesweit eingeführt sein, mit ihr können die rund 70 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen ihre Daten mit knapp 200.000 niedergelassenen Ärzten, Therapeuten und Krankenhäusern austauschen – wenn sie das wollen. Denn für die Akzeptanz der ePA ist das Vertrauen der Patienten entscheidend.

Der sichere Betrieb und die Weiterentwicklung einer digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen sind zentrale Aufgaben der gematik GmbH. Wie das dafür nötige Vertrauen gefördert werden kann und was das mit einem Stadion zu tun hat, darüber sprechen in diesem Interview die beiden Mediziner Dr. Markus Leyck Dieken, Geschäftsführer der gematik GmbH, und Dr. Gregor-Konstantin Elbel, Leiter des Deloitte Neuroscience Institute und Partner im Bereich Consulting mit Schwerpunkt Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Das Interview führte Melanie Croyé

Digitale Collage mit einem Smartphone, wo eine Gesundheitsapp zu sehen ist, Digitale Elemente kommen aus dem Smartphone raus

Seit Januar wird die elektronische Patientenakte schrittweise eingeführt. Herr Leyck Dieken, wie fällt Ihr erstes Resümee aus?

Dr. Markus Leyck Dieken › Wir befinden uns zum Zeitpunkt dieses Gesprächs noch in einer sehr frühen Phase mit sogenannten erweiterten Feldtests. Erst im zweiten Quartal 2021 werden wir in die Einführungsphase mit Ärzten im ganzen Bundesgebiet kommen. Coronabedingt stellen wir noch ein paar Einschränkungen fest, die Downloadzahlen der Apps sind jedoch gut und liegen derzeit im sechsstelligen Bereich. Es ist aber auch so, dass die Patienten den vollen Service der ePA erst dann erleben werden, wenn auch Ärzte und Behandler mit der entsprechenden Software ausgestattet sind. Wir gehen davon aus, dass die marktführenden Softwarehäuser zum offiziellen Start der ePA am 1. Juli die Behandler ausgestattet haben werden.

»Die Nutzer entscheiden selbst, welche Daten sie teilen und was mit diesen Daten passiert«

Dr. Markus Leyck Dieken

Ein entscheidender Aspekt ist der Datenschutz. Wie wird sichergestellt, dass die Daten nicht missbraucht werden können?

Dieken › Die Nutzer entscheiden selbst, welche Daten sie teilen und was mit diesen Daten passiert. Mit ihrer App können die Nutzer steuern, wann und wem sie Zugriff auf bestimmte Informationen geben möchten – und wie lange. Dazu gibt es in den ePA-Apps drei Körbe: einen für die Dokumente der Krankenkasse, einen für die der Ärzte und einen für den Patienten. Wenn dieser ein Dokument nicht zeigen möchte, weil er es in dem Kontext nicht als adäquat empfindet, kann er es in den Patientenkorb verschieben und diesen nicht freigeben. Damit liegt die Entscheidung, welche Informationen geteilt werden und welche nicht, beim Patienten.

Die elektronische Patientenakte ist nur ein Baustein der Digitalisierung in der Gesundheitsbranche, im Sommer kommt zudem das E-Rezept. Welche weiteren Schritte halten Sie für notwendig, Herr Elbel?

Elbel › Die elektronische Patientenakte ist ein guter erster Aufschlag. Aber ich denke, dass in den kommenden Jahren ein weiteres Thema von Bedeutung werden wird, gerade für chronisch Kranke: digitale Gesundheitsapplikationen, kurz DiGAs. Seit Ende 2020 können Ärzte diese Gesundheits-Apps neben der Behandlung verschreiben und damit Patienten bei der Erkennung, Überwachung und Behandlung von Krankheiten unterstützen. Erste Anwendungsbeispiele sind Migräne, Depressionen oder Fettleibigkeit. Wenn man die elektronische Patientenakte und diese DiGAs miteinander vernetzt – was ja geplant ist –, bringt man eine neue Qualität ins Gesundheitswesen.

Die DiGAs sollen ihre Daten, so ist es im Gesetz vorgesehen, direkt in die elektronische Patientenakte schreiben. Wie weit ist da die Entwicklung?

Leyck Dieken › Aktuell sind etwa zehn Apps zugelassen, und wir bereiten uns darauf vor, dass diese ihre Daten direkt in die ePA übertragen können. Zusätzlich muss auch auf der Seite des Arztes die Möglichkeit geschaffen werden, dass er diese Apps mit ihren Daten nutzen kann, ohne eine weitere Software öffnen zu müssen.

»Wir streben jetzt eine nationale Plattform an, bei der sich alle auf gemeinsame Standards einigen, sodass jede App eingebettet werden kann.«

Dr. Markus Leyck Dieken

Sie sprechen ein wichtiges Thema an: Von der Praxissoftware über die Smart Watch bis zur Gesundsheitsapp sollen zahlreiche Angebote Hand in Hand funktionieren. Wie kann das klappen?

Elbel › Genau deshalb ist die Rolle der gematik so wichtig. Anders als in England oder Dänemark, wo der Staat eine zentrale Akte aufbauen kann, haben wir in Deutschland ein historisch gewachsenes Gesundheitssystem mit unabhängigen Akteuren. Ihre Systeme müssen die Daten austauschen können, also interoperabel sein. Das ist die große Herausforderung für die Zukunft.

Leyck Dieken › Meiner Meinung nach ist die Interoperabilität der Hauptgrund, warum Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen so hinterherhängt. Wir haben es uns erlaubt, digitale Angebote isoliert wachsen zu lassen. Diese sind zwar gut durchdacht, wurden aber sehr fokussiert gebaut und stehen damit oft für sich. Zudem haben wir zugelassen, dass proprietäre IT-Standards entstehen, die mit keinem anderen Land anbindungsfähig sind. Wir streben jetzt eine nationale Plattform an, bei der sich alle auf gemeinsame Standards einigen, so dass jede App eingebettet werden kann.

Welche Hürden müssen gemeistert werden, um das Gesundheitswesen in Deutschland verantwortungsvoll zu digitalisieren?

Leyck Dieken › Wichtig ist, dass wir auf einer gemeinsamen Plattform tätig sind. Wir als gematik arbeiten gerne mit dem Bild einer Arena: Wir sind nicht davon überzeugt, dass Digitalisierung staatsplanerisch funktioniert. Stattdessen sollte es viele Spieler am Markt geben, aber eben auch eine Art Stadion, in dem das Spiel nach gemeinsam vereinbarten Regeln läuft. Dann wissen die Nutzer, dass die Mannschaften im Stadion nicht foulen, also Daten missbrauchen. Trotzdem sollte im Stadion selbst – im übertragenen Sinn – jedes Spiel gespielt werden können, sei es American Football, Golf oder Fußball.

Warum ist dieser Raum zur freien Entfaltung so wichtig für die Gesundheitsbranche?

Leyck Dieken › Wenn genug Freiraum da ist, geschieht Unvorhergesehenes – und das ist die Kunst der Digitalisierung. Als vor über 150 Jahren das Mikrofon erfunden wurde, hat keiner damit gerechnet, dass es einmal eine App geben könnte, die mit Hilfe des Mikrofons und anhand des Tremors in der Stimme des Sprechers erkennen kann, ob eine Vorstufe von Parkinson vorliegt.

Elbel › Das freie Spiel der Innovation ist wichtig, auch für die Frage: Was soll eigentlich entwickelt werden? Und zwar nicht im Sinne einer staatlichen Steuerung, sondern eines gesellschaftlichen Dialogs, gerade wenn es um den Datenschutz geht. Das kann man nicht alleine dem freien Spiel der Wirtschaft überlassen. Wir brauchen für diese hochpersönlichen Themen eine neue Form von Dialog und Konsensbildung auf gesellschaftlicher Ebene, um herauszufinden, was wir mit den neuen technologischen Möglichkeiten erreichen wollen – und was nicht. Gerade bei medizinischen Fragen ist es darüber hinaus manchmal nötig, auf einen globalen Datenpool zuzugreifen. Hier brauchen wir gute Lösungen, um die Zukunft des Gesundheitswesens zu ermöglichen.

Welche Chancen ergeben sich dadurch?

Leyck Dieken › Digitalisierung hat immer zwei Seiten. Zum einen gibt es den individuellen Gewinn, wenn die Daten eines Patienten besser ausgewertet werden können, zum Beispiel mit Künstlicher Intelligenz. Die andere Seite ist: Lässt sich aus den Daten noch mehr ableiten für die Gemeinschaft? Da geht es um Dateneinheiten, die wir als gematik erst noch technisch zur Verfügung stellen müssen. Ein Beispiel aus der Praxis: Die Laborärzte in Deutschland haben sich erst vergangenes Jahr auf einen Standard für die 300 wichtigsten Laborwerte geeinigt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung macht daraus jetzt so genannte medizinische Informationsobjekte, die wir in der ePA ablegen und langfristig der Forschung zur Verfügung stellen können. Das ist ein riesiger Fortschritt!

»Wir brauchen für diese hochpersönlichen Themen eine neue Form von Dialog und Konsensbildung auf gesellschaftlicher Ebene, um herauszufinden, was wir mit den neuen technologischen Möglichkeiten erreichen wollen«

Dr. Gregor-Konstantin Elbel

Wie kann man Bürgern den potentiellen Nutzen der Digitalisierung im Gesundheitswesen – allen voran der ePA – am besten vermitteln?

Elbel › Zum einen müssen wir das Vertrauen in die technische Infrastruktur fördern. Das könnte zum Beispiel mit jährlichen Transparenzberichten oder einer Art Cyber-TÜV für Akteure im Gesundheitswesen geschehen. Wichtig ist aber auch, dass die Anwendungen, die durch die ePA ermöglicht werden, eine neue Lebensqualität für die Nutzer bringen – als Patienten, aber auch in der Prävention oder bei der Pflege von Angehörigen. Und dieser Nutzen muss wissenschaftlich fundiert sein. Was dann aus den erhobenen Daten heraus entwickelt wird, sollte einem gesellschaftlichen Diskurs folgen. Wir müssen entscheiden, was machen wir wann, in welcher Reihenfolge und wer bekommt dabei welche Rechte. Diese Themen müssen vorab geklärt werden, damit sich alle mit der ePA wohl fühlen können.

Leyck Dieken › Ich glaube, die ePA wird sich Schritt für Schritt durchsetzen. Sie braucht genügend Mund-zu-Mund-Propaganda von Menschen, die ihren Familienmitgliedern und Freunden erzählen, wie gut der Einsatz der ePA beim Arzt, beim Therapeuten, im Krankenhaus funktioniert hat. So wird sie sich langsam und kontinuierlich durchsetzen. Dafür brauchen wir die Mithilfe von Ärzten und Zahnärzten, die sich ihren Patienten gegenüber positiv über die ePA äußern. Aber auch die Services der Krankenkassen werden die ePA beleben.

»Cybersicherheit ist kein starres System, sondern ein Konzept, das Quartal für Quartal aktualisiert wird.«

Dr. Markus Leyck Dieken

Welche Rolle spielt bei der Einführung der Digitalisierung im Gesundheitswesen die Öffentlichkeit? Und welche die Politik?

Elbel › Es wird eine echte Aufgabe für die kommenden Jahre sein, einen gesellschaftlichen Dialog zu orchestrieren. Was kann man, was will man mit den Daten machen, wenn ein größerer Teil der Gesellschaft die ePA nutzt. Ich spreche hier von einer Schwelle von 15 bis 20 Prozent. Dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen. In der Medizin werden relevante Strukturmaßnahmen in der Regel schon Jahre im Voraus geplant und beschlossen, zum Beispiel, ob ein Kreiskrankenhaus die Intensivkapazitäten aufstockt. Das kommt nicht aus dem Nichts, und das gilt auch in der digitalen Medizin. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Dialog, den wir hier in der Politik, aber auch außerhalb der Parlamente führen müssen.

Leyck Dieken › Und dabei geht es vor allem um die Daten, die absolut vertrauenswürdig gespeichert werden müssen, zum Beispiel in einer treuhänderischen Verwaltung.

Dann sollte auch sichergestellt sein, dass die Daten ausreichend geschützt sind. Wie steht es um die Cybersicherheit der Gesundheitsdaten?

Leyck Dieken › Für die gematik gilt: Security und Privacy by Design. Das bedeutet, dass wir die ePA bewusst unter Sicherheits- und Datenschutzaspekten entwickelt haben. Jeder einzelne Datensatz eines Patienten ist separat codiert, und wir überwachen kontinuierlich die Angriffsversuche auf die ePA. Das, was wir dabei lernen, fließt in weitere Maßnahmen zur Datensicherheit ein. Das heißt: Cybersicherheit ist kein starres System, sondern ein Konzept, das laufend aktualisiert wird. So können wir der Kapazität vorneweg laufen, um dafür zu sorgen, dass wir weiterhin sicher bleiben.

Elbel › Darüber hinaus arbeiten auch immer Menschen und Organisationen mit der digitalen Lösung, also in diesem Fall der ePA. Wir haben also auch eine systemische Ebene, die nicht technisch ist, sondern auf menschlichem Verhalten fußt. Und da geht es vor allem um die Frage der Kultur, um regelmäßige Schulungen und das Wissen, wie man mit diesen Tools umgeht. Sowohl bei denjenigen, die sie professionell anwenden, als auch bei den Patienten und deren Angehörigen. Und am Ende braucht es regelmäßige Kontrollen und eine Zertifizierung – so ähnlich wie beim Auto. Daher ist das Bild eines Cyber-TÜVs aus meiner Sicht sehr treffend.

Leyck Dieken › Und da kommen wir zur Grundlage der gematik. Denn das sind Betrieb, Test und Zertifizierung von Produkten für die Telematikinfrastruktur. Alle Hersteller in dem Bereich müssen auf unsere Teststrecke, und erst dann erhalten sie die Zertifizierung. Wir haben Monitoring-Systeme aufgebaut, um sicherzustellen, dass wir das ganze System im Blick behalten und wir jeden, den wir zulassen, auch hinsichtlich seiner Sicherheit beobachten können.

Porträt von Dr. Markus Leck Dieken

Dr. Markus Leyck Dieken

Markus Leyck Dieken ist seit 2019 Geschäftsführer der gematik GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin hat es sich zum Ziel gesetzt, die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens durch eine Telematikinfrastruktur sicherzustellen. Leyck Dieken ist von Hause aus Internist und Notfallmediziner. Er promovierte 2001 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in Endokrinologie. Vor seinem Amtsantritt bei der gematik GmbH war er als Senior Vice President Geschäftsführer Deutschland beim japanischen Pharmaunternehmen Shionogi tätig. Er ist zudem Mitglied in verschiedenen Fachgesellschaften sowie Autor von Publikationen.

Geschäftsführung der gematik

Porträt von Dr. Gregor-Konstantin Elbel

Dr. Gregor-Konstantin Elbel

Gregor-Konstantin Elbel ist Partner Life Sciences & Health Care bei Deloitte sowie Leiter des Deloitte Neuroscience Institute. Der gebürtige Münchner begann seine Karriere als Assistenzarzt/PostDoc-Stipendiat in der Neuroradiologie und präklinischen Hirnforschung am Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Als Experte für den deutschen und internationalen Gesundheitsmarkt beschäftigt er sich unter anderem mit Organisationsentwicklung, digitale Gesundheit sowie digitaler Transformation. Im Deloitte Neuroscience Institute unterstützt Elbel Unternehmen dabei, ihre Geschäftsprozesse durch den Einsatz moderner neurowissenschaftlicher Verfahren zu verbessern.

Profil bei Deloitte