Die Corona-Pandemie ist eine Herausforderung für Medizin, Gesellschaft und Wirtschaft. Wenn durch Corona das Bewusstsein für medizinisches Wohlbefinden so schlagartig ins Bewusstsein rückt, treibt das auch die Innovationen in diesem Sektor, und können sogar Betroffene zu Innovatoren werden?
Eric von Hippel › Absolut. Menschen kommen mit hohen Fähigkeiten quasi aus dem Nichts, entwickeln einfache Beatmungsgeräte. Die Gesundheitsindustrie muss sich dagegen mit Gesundheitsbehörden und weiteren Vorschriften auseinandersetzen. Hinzu kommt der Druck, dass Unternehmen profitabel arbeiten müssen und sich fragen, was aus Produkten wird, die zwar dringend benötigt werden, nach der Covid-19-Epidemie möglicherweise aber nicht mehr zu verkaufen sind. An einfachen Beatmungsgeräten arbeiten derzeit weltweit rund 50 000 Menschen. Es ist unglaublich, das ging innerhalb weniger Tage nach Ausbruch der Corona-Pandemie los. Ich denke, dass diese neue Form der offenen distribuierten Innovation, die von Heimarbeitern geschultert wird, künftig den Großteil der Verbraucherinnovationen stellen wird.
Ist das nicht im Gesundheitswesen besonders schwierig?
von Hippel › Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen. Sie stammen aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, aber ich denke, sie sind sehr hilfreich, um sowohl die Kraft der Verbraucherinnovation als auch deren Funktionsweise in der Praxis zu verstehen. Das erste Beispiel ist eine künstliche Bauchspeicheldrüse, die Patienten mit Typ-1-Diabetes für sich selbst entwickelt haben. Auf dem Markt erhältliche Geräte taten nicht das, was die Patienten brauchten. Einer von 20 Patienten starb im Laufe der Zeit aufgrund einer Fehlkalkulation seiner Insulindosen. Infolgedessen entwickelte Dana Lewis, eine Fachkraft für Gesundheitskommunikation, die selbst an Typ-1-Diabetes leidet, gemeinsam mit ebenfalls betroffenen Software-Ingenieuren das, was die Health-Care-Industrie seit Jahrzehnten versprochen hatte: eine künstliche Bauchspeicheldrüse, die automatisch die richtige Insulindosis unter Verwendung patientenspezifischer Informationen berechnet.
Das zweite Beispiel ist eine Innovation im Bereich medizinischer Dienstleistungen, entwickelt von dem Informatiker Sean Ahrens. Bei ihm wurde im Alter von 12 Jahren Morbus Crohn diagnostiziert. Mit 26 Jahren erfand er dann eine Website, auf der Patienten ihre Erfahrungen mit Medikamenten und Ernährungstipps austauschen können. Heute hat die Seite mehr als 10 000 registrierte Benutzer.
»Ich denke, dass diese neue Form der offenen distribuierten Innovation, die von Heimarbeitern geschultert wird, künftig den Großteil der Verbraucherinnovationen stellen wird.«
Welche Rolle spielen Pharmaunternehmen in diesem Zusammenhang?
von Hippel › Sie entwickeln Arzneimittel, wenn es einen wirtschaftlich attraktiven Markt dafür gibt. Sie haben jedoch keinen Anreiz, teure Forschungsarbeiten durchzuführen, die von Morbus Crohn Betroffenen bei ihrer Ernährung helfen könnten. Wer keine speziellen Lebensmittel herstellt, für den lohnt sich das nicht. Weil aber die Ernährung von entscheidender Bedeutung ist, mussten Patienten diesen Aspekt ihres Krankheitsmanagements selbst entwickeln. Im Gegensatz zu den Produzenten müssen Nutzer die Ausgaben für ihre Entwicklung nicht rechtfertigen. Patienten, die unter einer bestimmten Krankheit leiden, finden sehr oft keine Produzenten, weil sich aus der Problemlösung kein kommerzielles Marktpotential ergibt. Und was passiert dann? Wenn Sie selbst der Patient sind, lassen Sie sich etwas einfallen. Sie sitzen nicht einfach ruhig da, bis jemand kommt und hilft. Es gibt viele Beispiele dafür, Prof. Pedro Oliveira von der Copenhagen Business School hat einige gesammelt.
Dann folgen Patienteninnovationen der Logik eines Prinzips, dass wir ab 1977 bei Mountainbikes gesehen haben. Es besteht Bedarf an einem Produkt, das aber in der Realität nicht existiert.
von Hippel › Genau. Die Leute wollten mit dem Fahrrad die Hügel runterflitzen, aber die Hersteller haben den Bedarf zunächst nicht erkannt, und somit entwickelten Tüftler die ersten Mountainbikes selbst. Heute sind diese Sportgeräte ein wichtiger Faktor auf dem Fahrradmarkt. Das gleiche Muster gilt übrigens für die Entstehungsgeschichte jeder neuen Sportart. Windsurfen oder Kitesurfen und die dazu gehörigen Sportgeräte sind Beispiele von Innovationen, die von Verbrauchern, nicht Produzenten, entwickelt wurden. Dies ist auch sinnvoll, da zunächst Einzelpersonen ihre individuellen Wünsche kennen, bevor die Hersteller die Art und das Ausmaß dessen erahnen können, was letztendlich zu einem profitablen neuen Markt wird.
Die Demokratisierung der Technologie bedingt, dass zukünftige Technologien exponentiell besser und billiger werden. Wenn wir die Auffassungsgabe der Endbenutzer mit ihrer Fähigkeit kombinieren, fortschrittliche Technologie besser in den Griff zu bekommen, gibt es dann überhaupt noch eine Grenze für Konsumenteninnovationen?
von Hippel › Innovationen werden zunehmend von den Nutzern kommen. Produzenten stehen die bessere Ausrüstung und Teams zur Verfügung, dachte man früher. Doch heute verfügen Nutzer über eine Ausrüstung, die mit der Konstruktionssoftware der Unternehmen mithalten kann. Sie können sich im Netz mit Gleichgesinnten zusammentun, Ideen austauschen und Aufgaben verteilen.
Aber benötigen wir dann nicht eine Instanz, die ethische Standards schafft oder definiert? Oder sollte die Crowd diesen Standard selbst definieren?
von Hippel › Wer eine Innovation entwickelt, um sie für sich selbst zu nutzen, hat einen sehr starken Anreiz, sie sicher zu machen. Insbesondere im medizinischen Bereich werden aber, etwa bei Patienteninnovationen, Sicherheitskontrollen unerlässlich sein. Das Problem wird darin bestehen, diese Überprüfung so leichtzumachen, dass sie den Innovationsprozess an sich nicht unterdrückt. Medizinische Innovationen stellen in puncto Bedeutung der Sicherheit aber eine Ausnahme dar. In den meisten Bereichen will die Gesellschaft das persönliche Risiko nicht regulieren, weil das individuellen Freiheiten im Wege zu steht. Das gilt besonders für die von Verbrauchern entwickelten Sportarten. Keine Regierungsbehörde schreitet ein, wenn Sie in einem Wingsuit von einem Berg springen oder mit dem Mountainbike mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Berg hinabrasen. Es ist Ihr persönliches Recht, Ihre persönliche Freiheit, und Sie müssen das Risiko selbst einschätzen. Die meisten von Verbrauchern entwickelten Innovationen bergen jedoch kein persönliches Risiko.