Herr Otto, gerade leben wir wegen Corona in einer Art „Ausnahmezustand“. Auch für Unternehmen sind solche Krisen nicht leicht. Warum ist es in herausfordernden Zeiten wichtig, als Marke öffentlich keine Fehler zu machen?
Mike John Otto › Marken können – wie Menschen auch – unter Druck geraten. Gerade in Zeiten wie diesen passiert das leichter als zu normalen Zeiten. Die Handlungsspielräume sind kleiner, meist gilt es, schneller zu agieren und zu reagieren – und dabei noch authentisch zu bleiben und vor allem jeglichen Aktionismus zu vermeiden. Wenn dann keine Krisenstrukturen bestehen, oder diese gar erst aufgebaut werden müssen, und die Konsumenten sich alleingelassen fühlen, kann der Druck noch größer werden und sich daraus eine veritable Markenkrise entwickeln. Es ist daher für eine Marke zu jedem Zeitpunkt wichtig, ein klares Verständnis von sich selbst zu haben und dieses transparent zu kommunizieren. Aber auch in normalen Zeiten sind Marken vor Fehlern nicht gefeit. Das kann den mangelnden Service eines Produktes betreffen oder eine Rückholaktion sein, die nicht proaktiv genug kommuniziert wurde. Immer dann, wenn ein Mismatch besteht zwischen dem, wie das Unternehmen denkt und handelt, und den Erwartungen und Bedürfnissen der Öffentlichkeit, kann es zu nachhaltigen Irritationen kommen.
Wenn viele Menschen mit einer Entscheidung einer Marke Schwierigkeiten haben, erkennt man das heutzutage an den Äußerungen in den sozialen Medien, im schlimmsten Fall an einem Shitstorm.
Otto › Das ist wirklich ein absolutes Augenmerk. Jede Marke wird in Augenschein genommen, egal ob positiv oder negativ. Die Leute beschäftigen sich mit Medien, lesen News. Und dementsprechend groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass falsche oder schlechte Entscheidungen wirklich sofort öffentlich wahrgenommen werden – sie haben einen absoluten Impact auf die Marke.
»Es ist daher für eine Marke zu jedem Zeitpunkt wichtig, ein klares Verständnis von sich selbst zu haben und dieses transparent zu kommunizieren.«
Die neue Nähe zu den Konsumenten bietet Marken aber auch Chancen. Welche sind das?
Otto › Es gibt Mechaniken, die aufgrund der digitalen Plattformen einfach gut funktionieren. So entsteht, eigentlich zum ersten Mal in der Markengeschichte, wirklich die Möglichkeit, in den Dialog mit der Zielgruppe zu treten. Was ich heute als Marke poste, wird sofort kommentiert; was ich mache, wird sofort bewertet. Wenn ich das gut mache, wenn ich beim User eine Leidenschaft entfache, wenn ich ein Thema besetze, das für die Leute spannend ist, dann teilen sie das viel lieber. Das Markenthema wird zu ihrem Thema und somit wiederum zu einem Teil ihres Alltags. Wer das schafft, hat Mitstreiter und die Möglichkeit, durch viele kleine Verbreitungen für Reichweite zu sorgen. Aus den Usern sind so bereitwillig – und ganz umsonst – Fans, also Botschafter, einer Marke geworden, die deren Content und deren Produkte teilen. Darum geht es: Menschen nicht einfach mit einer Botschaft zu überrennen, sondern sie über einen spannenden Dialog und durch authentische, klare Kommunikation von der Marke zu überzeugen.
Nun ist eine „Brand“-Ethik für Marken ebenfalls ein wichtiger Erfolgsfaktor. Was hat es damit auf sich?
Otto › Die Gesellschaft verwandelt sich immer weiter in eine digitale Gesellschaft. Dabei hat man den Eindruck, dass die Menschen auch ein starkes Bewusstsein dafür entwickeln, dass alle eine soziale Verantwortung tragen – von der Politik über Marken bis hin zu jedem Einzelnen. Marken müssen daher genau schauen, was ihr Handeln für Auswirkungen auf den sozialen Diskurs hat. Mit Verantwortungsbewusstsein und Brand-Ethik beschäftigen sich daher aktuell alle Marken. Es gibt fast überall Ethik-Beauftragte, die mit dem Marketing zusammenarbeiten und sich Gedanken über ethische Auswirkungen machen. Sie überlegen beispielsweise, in welchen Bereichen die Marke ein größeres Verantwortungsbewusstsein entwickeln sollte oder in welchen Bereichen sie sich stärker engagieren muss – immer mit Blick darauf, ob das Engagement dem Markenkern entspricht. Natürlich müssen darauf auch die Produkte ausgerichtet werden – gerade dann, wenn man merkt, dass ein Produkt eine Diskrepanz zu einem öffentlichen Trend aufweist. Da muss eine Marke heute unbedingt überlegen, was sie ändern oder verbessern kann.
Haben Sie für diese Neuausrichtung ein Beispiel?
Otto › Spannend ist aus meiner Sicht Nike mit dem Schuh „Space Hippie“. Das Produkt ist aus der Nachhaltigkeitsthematik entstanden. Bei Nike kam man zu der Erkenntnis, dass die Marke bei der Herstellung ihrer Produkte relativ viel Müll produziert. Daher ist man der Frage nachgegangen, was man mit dem Müll eigentlich machen kann. Über die Idee der Verknappung ist man daraufhin auf einen interessanten Konzeptansatz gekommen: Nasa-Studien zur Kolonisierung des Mars zeigen, wie man mit den knappen Ressourcen vor Ort so agiert, dass man immer weiterproduzieren kann, indem man regelmäßig schaut, dass mögliche Ressourcen nicht weggeworfen werden. Diese Gedanken führten zu dem Namen Space Hippie und zu dem Ansatz, aus dem Müll, der bei der Herstellung von Schuhen produziert wird, einen neuen, speziellen Schuh zu kreieren. Das war so erfolgreich, dass man sogar überlegt, mit dem Modell in die Masse zu gehen. Was ich damit sagen will: Mit dem richtigen Innovationsgeist kann man dafür sorgen, dass man nicht nur passend zur Zeit, sondern sogar auch wirtschaftlich schlau agiert. An dem Beispiel merkt man auch, wie wichtig eine Geschichte, ein Narrativ ist, das einen aktuellen Bezug zu gesellschaftsrelevanten Trends und Phänomen hat.
Inwiefern?
Otto › Wenn ich es schaffe, aus einem Insight oder einem Problem, aus einem Impuls heraus ein Narrativ zu entwickeln, das meine Marke und mein Produkt mit aktuellen Entwicklungen sehr gut verbindet und sich in einer noch nie dagewesenen Weise erzählen lässt, dann ist das differenzierend. Eine „Narrative Experience“ bedeutet genau das – ein Erlebnis zu schaffen, das Menschen nachhaltig prägt.
Können Sie die Idee der „Narrative Experience“ noch weiter ausführen?
Otto › Wenn ich beispielsweise auf einer Vernissage ein Kunstwerk sehe, das mich sehr berührt, dann werde ich die Kunstausstellung verlassen und sehr wahrscheinlich beim Abendessen meiner Familie oder am nächsten Tag meinen Freunden von dieser Vernissage und dem Bild erzählen. Nicht weil mir die Veranstalter das aufoktroyiert hätten, sondern weil sie mir einen Rahmen, eine Erfahrung für das Erleben eines Narrativs geboten haben, das zu meinem eigenen Narrativ wird, zu meiner eigenen Geschichte. Urban Myths und auch Sagen sind schon früher so entstanden.