Herr Stummeyer, was reizt Sie an der Digitalisierung im Handel und Vertrieb – und am Einsatz künstlicher Intelligenz?
Christian Stummeyer › Mich hat die Digitalisierung eigentlich schon in meiner Schulzeit interessiert. Damals habe ich viel programmiert und so einen Zugang in die digitale Welt gefunden. In den 2000er Jahren habe ich dann entdeckt, dass im E-Commerce viel Potential steckt, Kunden effizienter anzusprechen und Prozesse zu optimieren. KI war zu der Zeit wirklich ein Thema für Vorreiter, das mich bis heute beschäftigt. Inzwischen ist das Thema KI sogar massentauglich geworden, auch durch Systeme wie Chat GPT.
Herr Tille, woher rührt bei Ihnen die Faszination für digitale Daten?
Chris Tille › Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass mir visuelle Impulse als Anstoß für meine Kunst nicht mehr ausreichten. Dann habe ich mich auf eine Suche nach anderen Quellen für meine Motive gemacht und bin bei Klängen und digitalen Daten fündig geworden. Es begann zunächst mit der Entschlüsselung von Datenpaketen und dem Versuch, sie zu visualisieren. Daraus entwickelte sich mit der Zeit meine eigene Kunstform, die zwar in der Kunstwelt nischig, aber eben wie Herr Stummeyer schon für den digitalen Handel bemerkte, mit enormen Möglichkeiten verbunden ist.
Wie gehen Sie in Ihrer künstlerischen Arbeit mit Daten um?
Tille › Durch meine engen Kontakte zum Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching erhielt ich Zugang zu faszinierenden Daten. Projekte wie „Big Bang“ – die Darstellung der ersten 760.000 Jahre unseres Universums, „First Light“ (Bild rechts) – das erste Licht, das jemals auf der Erde eintraf, und weitere Zyklen wurden möglich.
Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist die NASA, mit der ich vor einigen Jahren den Zyklus „Sphere“ realisiert habe. Hierbei entstanden reduzierte Kreisstrukturen, die das Weltraumwetter um die Erde darstellen. Aktuell arbeite ich an zwei aufregenden Projekten: Das erste, „Konkretion“, widmet sich der Visualisierung von Gedanken oder Emotionen auf Grundlage realer EEG-Messergebnisse.
Beim zweiten Projekt „Magna“ geht es um die Expeditionsmittel, die von Forschungsinstituten genutzt werden. Egal woran im Weltall geforscht wird, meistens entstehen dabei Abtastdaten. Ich nutze diese Daten, wie etwa Sonaraufzeichnungen, und entwickle daraus Skizzen. Das heißt konkret, dass ich zum Beispiel Abtastpfade von Forschungsschiffen oder Satelliten verwende und selektiere, auswerte und im nächsten Schritt die digitalen Daten auf Fotopapier belichte.
Nun sehen Sie beide in den digitalen Daten viel Potenzial. Doch Ihr Umgang mit den Daten und die Zielsetzung ist bei Ihnen beiden zugleich komplett anders.
Stummeyer › Das stimmt. Im E-Commerce dreht sich alles darum, ein immer präziseres Kundenprofil zu entwickeln. Wir arbeiten daran, dieses Profil kontinuierlich zu verfeinern. In vielen Fällen wissen wir bereits viel über unsere Kunden, beispielsweise ihre Produktpräferenzen und Servicevorlieben. Unser Ziel ist es, das Leben unserer Kunden einfacher, angenehmer und schöner zu gestalten. Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz wird dies noch einfacher. Wir können Kunden auf personalisierte Weise ansprechen, individuelle Beratung bieten und maßgeschneiderte Produktempfehlungen aussprechen. Im digitalen Handel, Marketing und Vertrieb gibt es viele Aspekte, bei denen KI auch in Zukunft dazu beitragen wird, die Kundenbeziehung zu optimieren.
Verliert der Kunde dadurch nicht seine Autonomie?
Stummeyer › Ich bin der Überzeugung, dass mündige Bürger und Konsumenten nach wie vor die Kontrolle haben. Sie bestimmen, was sie wollen und was nicht. Es wird immer Menschen geben, die bereit sind, ihre Daten im Interesse von Bequemlichkeit mit Händlern zu teilen. Gleichzeitig gibt es andere, die entschieden dagegen sind, ihre Daten für Konsumzwecke preiszugeben. Diese Vielfalt ist völlig in Ordnung. Wir sollten den Menschen die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein mündiger Konsument bewusste Kaufentscheidungen treffen kann.
Tille › Im Bereich des Handels sehe ich das ähnlich. Ich glaube daran, dass Bürger selbst entscheiden können, ob sie von Angeboten Gebrauch machen möchten oder nicht. Allerdings gelten für meine Kunst andere Regeln.
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Inwiefern?
Tille › Es gibt keinen Bereich, der so zweckfrei ist wie die Kunst. Das bedeutet, ich kann völlig frei darüber nachdenken, was ich mit den Daten anstellen möchte. Mein Ziel ist es, meinen Betrachtern Raum für Interpretation zu bieten und letztendlich ihre subjektiven Empfindungen, Emotionen und Gefühle anzusprechen. Das unterscheidet sich stark von Herrn Stummeyers Datenarbeit. Allerdings bin ich auch auf Forscher und Wissenschaftsinstitute angewiesen, die mir Daten zur Verfügung stellen. Diese Daten sind frei verfügbar, aber oft auf sehr unterschiedlichen Plattformen zu finden. Aber um in meinem Fall eines klar zu sagen: Ohne Daten keine Kunst.
Stummeyer › Für den Handel kann man es noch deutlicher zuspitzen: Je mehr Daten, desto bessere Ergebnisse. Das liegt daran, dass Machine-Learning-Algorithmen mit mehr Daten besser trainiert werden können. Letztlich gilt das für Mobilitätsdaten oder medizinische Daten ebenso. Unser Ziel ist es, Daten verfügbar zu machen, um daraus zu lernen. Allerdings fehlt es vielleicht noch an gesellschaftlicher Akzeptanz dafür. Wir brauchen unbedingt einen offenen Umgang mit Daten.
Tille › Ein offener Umgang mit Daten birgt jedoch auch Gefahren. Heutzutage ist es möglich, mithilfe von KI Szenarien zu entwickeln oder Beweisketten zu erstellen, die zur Anklage von Personen verwendet werden könnten. Menschen haben plötzlich Zugang zu gefährlichem Wissen, wie der Konstruktion einer Bombe mit einfachen Mitteln. Daher glaube ich, dass hier bestimmte Regularien und ein gewisser Datenschutz erforderlich sind.
Stummeyer › Mit Offenheit meine ich vor allem eine offene Denkweise. Es ist wichtig zu erkennen, dass Datenaustausch und -kooperation uns auf ein höheres Level heben können, weil eins plus eins mehr als zwei ergibt. In einigen Unternehmen wird der Schutz von Daten so stark betont, dass Innovationen darunter leiden. Natürlich ist es eine Frage des Abwägens. Bei proprietären Daten muss ein Unternehmen sorgfältig prüfen, welche Informationen freigegeben werden können und ob es aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoll ist.
Tille › Eine solche Auffassung von Offenheit führt meiner Meinung nach auch zu besseren Ergebnissen im Bereich der Kunst. Schließlich hat die Fotografie, die ursprünglich wissenschaftlichen Zwecken diente, die Kunst stark beeinflusst. Und auch außerkünstlerische Impulse entwickeln Kunst weiter. Gerade aus dieser Unbefangenheit gegenüber verschiedenen Einflüssen entstehen neue kreative Ansätze und Innovationen in der Kunst.
Herr Tille, kann Ihre digitale Kunst neben der Aktivierung des subjektiven Empfindens auch dazu beitragen, das Vertrauen in die digitale Welt zu stärken?
Tille › Ich denke schon, dass sie dazu beitragen kann, zumindest ein wenig die Ängste abzubauen. In meinen Ausstellungen spreche ich oft mit Besuchern über Themen, die mich beschäftigen – etwa über EEG-Geräte oder den Wetter- und Umweltsatelliten Suomie NPP, dessen Aufnahmen als Basis für mein Kunstwerk 2297, einer Darstellung der Erde im Jahre 2297 (Bild links), dienten. Das sind Dinge, mit denen sich viele Besucher noch nie beschäftigt haben. Einige erkennen dabei, wie interessant diese Bereiche sind. Bei manchen entfacht das regelrecht die Begeisterung für Technologie. Da kann ich mit der Kunst tatsächlich eine Brücke bauen.
Stummeyer › Damit bringen Sie eine neue Perspektive ein, die Wissenschaftler oder Ökonomen möglicherweise nicht auf dem Schirm haben. Durch diese künstlerische Perspektive entstehen neue Ideen, Räume oder Erkenntnisse. Das ist wertvoll und spannend.
Inwieweit stellt sich bei all den digitalen und technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung für Künstler die Frage nach dem geistigen Eigentum?
Tille › Die Angst vor Kopien besteht in der Malerei seit der Erfindung der Fotografie, und doch koexistieren beide Formen weiterhin. Für mich stellt sich eher die Frage, inwieweit ich als Künstler noch persönlich involviert sein muss, um ein künstlerisches Werk zu erschaffen. Ursprünglich erforderte es besondere Fähigkeiten, um ein Werk zu schaffen, das sich wesentlich von anderen unterschied und herausragte. Diese Vorstellung ist inzwischen obsolet geworden.
Andererseits sollte man beachten, dass nicht jeder, der einen Stift hält, ein Schriftsteller, und nicht jeder, der eine Kamera besitzt, ein Fotokünstler ist. Und doch ist es natürlich durch die Digitalisierung und KI für Laien leichter geworden. Trotzdem bin ich optimistisch, dass es immer wichtig bleiben wird, wer etwas erschafft und wie er Technologie dafür einsetzt.
Stummeyer › Ich sehe es ähnlich: Der Künstler aus Fleisch und Blut, die Persönlichkeit mit Haltung und echter Kreativität, die wird es auch in zehn und in 100 Jahren geben.
Sie haben beide ein sehr gefestigtes Vertrauen, dass wir auch zukünftig die Technik beherrschen – und nicht umgekehrt. Was braucht es dafür?
Tille › Leidenschaft und Neugier, der Drang Dinge zu erforschen, auszuprobieren. Ich glaube, das ist wirklich wichtig, wenn man sich mit Neuem auseinandersetzen will. Und die digitalen Daten, KI, das ist genau so ein Bereich, in dem das herausgefordert wird.
Stummeyer › Absolut. Nur mit dem richtigen Maß an Offenheit schaut man sich neue Themen an und entwickelt eine positive Einstellung dazu. Natürlich ist es auch wichtig, Risiken zu bedenken, aber wenn man immer nur auf die Risiken schaut, bringt man wahrscheinlich wenig Innovation in die Welt.
Christian Stummeyer
Christian Stummeyers berufliche Laufbahn begann in der strategischen Unternehmensberatung bei der Boston Consulting Group. Danach wechselte er in den internationalen Führungskreis von Siemens. In der Zeit begann er auch über ein eigenes Unternehmen nachzudenken. Als Gründer im Bereich E-Commerce leitete er von 2009 bis 2013 ein Unternehmen für Wohnmöbel und Wohnaccessoires, wechselte danach in den Beirat. Nach einigen Jahren als Geschäftsführer bei Deutschlands größter Digitalagentur, der UDG United Digital Group, übernahm er 2016 die Professur für Wirtschaftsinformatik und Digital Commerce an der Technischen Hochschule Ingolstadt.
Chris Tille
Chris Tille kam über eine klassische Fotografenausbildung zur Kunst und Fotografie. Dabei assistierte er eine zeitlang bei der Fotokünstlerin Katharina Sieverding und lernte bei dem schweizerisch-amerikanischen Fotografen Robert Frank. Nach vorübergehenden Kunstprojekten für Unternehmen Mitte/Ende der 90er Jahre kehrte er schließlich wieder vollständig zur Kunst zurück. Derzeit sind Ausstellungen bei Renée Pfister in London, der Galerie Smudajescheck in München und im KUNST BLOCK BALVE (München) geplant.