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Gesellschaft

Wir stellen das auf den Kopf. Geflüchtete sind Veränder­ungsexperten

An der ReDi School in Berlin lernen Geflüchtete Programmieren. Es gibt Menschen, die bewahren trotz widrigster Umstände ihren Lebensmut, reagieren auf Krisen mit Zuversicht. Forscher nennen das „Resilienz“.

Von Guido Walter

Mann schaut auf seinem Laptop, im Hintergrund Unterhalten sich zwei Männer miteinander

Wenn Anne Kjaer Riechert von Rami redet, dann leuchten ihre Augen. „Er ist jetzt seit drei Jahren in Deutschland, arbeitet Vollzeit, macht seinen Bachelor und hat zwei Online-Unternehmen gegründet.“ Rami, Experte für Google Advertising, kam 2015 als Geflüchteter nach Deutschland. „Ich würde mein Geld in ihn investieren“, sagt Riechert. „Einfach, weil er soviel durchlebt hat und so talentiert ist.“ Resilient eben. Mit der ReDI School in Berlin setzt die Dänin digitale Verantwortung in Praxis um. ReDI (Ready for Digital Integration) bietet IT- und Programmierkurse an, baut Integrationshindernisse ab und gibt geflüchteten Menschen Perspektiven. Sprachbarrieren überwinden, Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringen. Das funktioniert. „Es begann mit Geflüchteten und Asylsuchenden, jetzt kommen Migranten, Zweite-Generations-Migranten und deutsche Arbeitslose hinzu. Sie lernen bei uns digitale Fähigkeiten, die wir in der Zukunft brauchen.“

In deutschen Unternehmen ist viel von Change Management die Rede. Mitarbeiter für Anforderungen der digitalen Transformation fit machen. Geflüchtete bringen das dafür nötige Mindset oftmals mit. Sie sind Veränderungsexperten. Von wegen soziale Hängematte. „Wir stellen das auf den Kopf und sagen: Deutschland braucht junge talentierte Leute, die global denken können, die Krisen bewältigt haben und unternehmerisch denken können. Nicht jeder interessiert sich für die digitale Welt. Aber wir sehen das Riesenpotential.“ In der Umsetzung heißt das:

Behandele Geflüchtete als Opfer, werden sie sich als Opfer verhalten. Behandele sie als Technologieexperten, verhalten sie sich als solche. Ein Perspektivenwechsel, der geeignet ist, der Überthematisierung von Migration entgegenzuwirken.

Die IT- und Programmierkurse von ReDI ziehen lernwillige Talente an. „Wir haben jetzt 900 Alumni und 500 Teilnehmer in unseren Kursen“, sagt Riechert, die einen Master-Abschluss in Friedensforschung und Innovation gemacht und in gewaltfreier Kommunikation ausgebildet ist. Dazu gesellen sich 250 Ehrenamtliche, oft IT-affin und aus der Start-up-Szene. Sie bilden ein Netzwerk, zu dem u.a. SAP, Google, Cisco und Microsoft zählen. Dabei sind auch Salesforce und Facebook. Mark Zuckerberg besuchte die Schule ein halbes Jahr nach ihrer Gründung im Jahr 2015. Den AZAV-Zertifizierungsprozess für Anerkennung und Zulassung von Bildungsträgern und Bildungsmaßnahmen unterstützt Deloitte. „Wir stehen in engem Kontakt zu den HR-Abteilungen vieler Unternehmen“, sagt Riechert. „Unsere Schüler erhalten so leichter Zugang zu Praktika und Jobs.“ Riechert sieht die ReDI School als Plattform. „Teilnehmer und Unternehmen reden miteinander, entwickeln neue Projekte. In Unternehmen selbst ist das oft schwieriger. Sie sind prozessorientiert und agieren nicht so flexibel wie ein Start-up.“

Eine Umfrage unter ReDI-Absolventen ergab, dass 62 Prozent der befragten Studierenden den Einstieg in bezahlte Praktika oder Jobs schafften. Etwa 17 Prozent schrieben sich an einer Universität ein. 6 Prozent gründeten eine Firma. Das Durchschnittsalter der Schüler liegt bei etwa 30 Jahren, 40 Prozent der Teilnehmer sind Frauen. Die Betriebskosten einer ReDI-School beziffert Riechert mit rund 350.000 Euro pro Jahr, was etwa 1000 Euro pro Lernplatz entspricht. Expansionen nach Hamburg und Potsdam stehen an, sobald die Finanzierung steht. Anne Kjaer Riechert will nichts übereilen. Dennoch ist die ReDI School seit 2015 um den Faktor 10 gewachsen.

Gruppenbild von der ReDI School
Foto von einer Wand, wo ein Baum dran gemalt wurde und Blätter aus Papier mit Sätzen/Zitaten dran geklebt wurden.

Plattformen funktionieren, wenn ihr Business skaliert. Bei der ReDI School skaliert ein wichtiges digitales Gut: Bildung. „Es stört mich ein bisschen, wie wenig digitalen Unterricht es in den Schulen gibt. Unsere IT-Experten können da helfen und in Schulen unterrichten. Um die nächste Generation von IT-Experten anzuschieben.“

An der deutschen Bürokratie verzweifelt die Dänin, die früher bei Coca-Cola und Samsung gearbeitet hat, gelegentlich. „Politiker kommen gerne mit Journalisten im Schlepptau zum Besuch, und dann passiert nichts. Ich frage mich jeden Tag, wie wir besser mit der deutschen Bürokratie zusammenarbeiten können.“ Bürokratische Hürden stehen einer kooperativen Zusammenarbeit von Wirtschaft, Verwaltung und Drittem Sektor noch vielfach im Weg. Jedes dritte Start-up in Deutschland verzichtet auf Geld vom Staat, weil es den bürokratischen Aufwand scheut. Anne Kjaer Riechert: „Wir brauchen Public Innovation, wir brauchen Public Private Partnerships. Aber haben Sie mal einen Antrag an ein Ministerium geschrieben?“ Anne Kjaer Riechert kriegt das zunehmend besser hin. Neben Resilienz hilft eben auch Erfahrung.“

Porträt von Anne Kjaer Riechert

Anne Kjaer Riechert

CEO und Co-Founder der ReDI School of Digital Integration

2006 machte die Dänin ihren Abschluss bei den „KaosPilots“ – ein Hybrid aus Business- und Design-School in Dänemark – und arbeitete bis 2009 als Beraterin im Bereich Corporate Social Responsibility. Während dieser Zeit entwickelte sie auch die preisgekrönte CSR-Strategie von Samsung Electronics für Skandinavien. Nach zwei Forschungsjahren in Japan zum Thema soziale Innovation gründete sie das „Peace Innovation Lab“ in Berlin, um zu erforschen, wie Technologie entstehende und messbare soziale Veränderungen erleichtert, die zu globalem Frieden führen. Im Jahr 2015 gründete sie die ReDi School of Digital Integration. Hier können Flüchtlinge Programmieren lernen oder ihre Programmierausbildung fortführen. Capital zählte Riechert drei Jahre in Folge zu den „Top 40 unter 40 – junge Elite“ und Edition F zu den „25 Frauen“, welche die deutsche Wirtschaft revolutionieren. Das Handelsblatt kürte sie 2018 zur „Mutmacherin des Jahres“.

ReDI School of Digital Integration