Künstliche Intelligenz, vernetzte Produktion, kommunizierende Maschinen und selbstfahrende Autos – jeden Tag werden unzählige Mengen an Daten produziert. Wie verändert diese „Datafizierung“ unser Leben und Arbeiten, Frau Schüller?
Katharina Schüller › Wir sehen schon heute, dass Entscheidungen immer häufiger und immer tiefgreifender auf der Basis von Daten und Algorithmen getroffen werden. Das passiert zunehmend automatisiert und wirkt sich auf den Alltag jedes Einzelnen aus – etwa, wann ich welche Werbung im Internet angezeigt bekomme oder welches Workout mir die Fitness-App heute vorschlägt. In Unternehmen werden auf der Grundlage von Datenanalysen zum Beispiel Entscheidungen darüber getroffen, welche Bauteile überprüft und möglicherweise ersetzt werden müssen.
Diese Art der Datenanalyse als solche ist aber nicht neu.
Schüller › Das stimmt, der Mensch hat schon viele Jahrhunderte lang auf der Basis von Daten Entscheidungen getroffen. Neu ist aber die Tatsache, dass zunehmend Algorithmen auswählen, welche Daten und somit welche Informationen wir Menschen überhaupt noch zu Gesicht bekommen. Dadurch geht ein Stück weit die Transparenz verloren – es entsteht eine „Blackbox“. Hinzu kommt, dass ein Algorithmus nicht analysieren kann, was die erfassten Daten bedeuten. Erst durch die Interpretation der Daten durch Menschen lassen sie sich in einen größeren Zusammenhang einordnen. So lange nur Spezialisten auf der Basis von Daten Entscheidungen getroffen haben, war das eine überschaubare Herausforderung. Doch wir alle führen inzwischen ein datengetriebenes Leben und haben somit Zugang zu Daten, die wir in ihrer Gesamtheit so oft gar nicht verstehen. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Möglichkeiten – aber auch die Grenzen – von Daten und ihrer Aussagekraft zu vermitteln.
»Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Möglichkeiten – aber auch die Grenzen – von Daten und ihrer Aussagekraft zu vermitteln.«
Wenn Daten als wertvolle, vielleicht sogar als die wertvollste Ressource überhaupt, gelten und viele Entscheidungen auf der Basis von Daten getroffen werden, welche Fähigkeiten braucht es dann in Gesellschaft und Arbeitswelt?
Schüller › Es braucht eine Vielzahl verschiedener Fähigkeiten, die ineinander greifen. Medien- und Informationskompetenzen zum Beispiel sind die Grundlage für digitale Teilhabe. Denn erst wenn ich diese Kompetenzen besitze, bin ich in der Lage, mich mit der (digitalen) Informationsflut reflektiert auseinanderzusetzen. Wenn wir einen Blick auf das Feld der digitalen Kreativität werfen, dann braucht es unter anderem die Fähigkeit, digitale Inhalte in verschiedenen Formaten zu erstellen und sich mit digitalen Mitteln auszudrücken. Datenkompetenzen und Kompetenzen rund um Künstliche Intelligenz wiederum bilden das Fundament digitaler Wettbewerbsfähigkeit.
»Mit Data Literacy sind Kompetenzen gemeint, die für alle Menschen auf der ganzen Welt entscheidend sind, damit sie in einer von Digitalisierung geprägten Welt mündig sind und es auch in Zukunft bleiben.«
Spätestens seitdem die Bundesregierung ihre Datenstrategie Anfang des Jahres veröffentlicht hat, ist das Wort „Data Literacy“ auch hierzulande in aller Munde. Was ist damit genau gemeint?
Schüller › Data Literacy gilt zu Recht als die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts. Dieser Begriff umfasst die Fähigkeiten, Daten auf kritische Art und Weise zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden. Gemeinsam mit anderen Expertinnen und Experten habe ich an der „Data-Literacy-Charta“ mitgearbeitet, die Anfang des Jahres veröffentlicht wurde und im Einklang mit der Datenstrategie der Bundesregierung steht. Wenn Daten Entscheidungsprozesse unterstützen sollen, braucht es demnach Antworten auf die folgenden vier Fragen:
- Was will ich mit Daten machen? Daten und Datenanalysen sind schließlich kein Selbstzweck, sondern dienen einer konkreten Anwendung in der realen Welt.
- Was kann ich mit Daten machen? Datenquellen und deren Qualität sowie der Stand der technischen und methodischen Entwicklungen eröffnen Möglichkeiten und setzen Grenzen.
- Was darf ich mit Daten machen? Alle gesetzlichen Regeln der Datennutzung (u.a. Datenschutz) müssen immer mitbedacht werden.
- Was soll ich mit Daten machen? Weil Daten eine wertvolle Ressource sind, leitet sich daraus der Anspruch ab, sie zum Wohle der Gesellschaft zu nutzen.
Das mag zunächst so klingen, als sei Data Literacy wieder nur etwas für Spezialisten. Aber nein: Mit Data Literacy sind Kompetenzen gemeint, die für alle Menschen auf der ganzen Welt entscheidend sind, damit sie in einer von Digitalisierung geprägten Welt mündig sind und es auch in Zukunft bleiben.
Vor welchen Herausforderungen steht die Data Literacy Education – etwa in den Schulen und Hochschulen?
Schüller › Wirklich positiv sehe ich die Tatsache, dass Data Literacy inzwischen auch in der Strategie der Bundesregierung verankert ist und erste Ansätze sichtbar sind, das Thema in die Schulen und Hochschulen zu tragen. Ich habe allerdings die Befürchtung, dass Data Literacy in die Ecke der Informatik und Mathematik gedrängt wird und der Fokus sehr stark auf der rein technisch-methodischen Perspektive verharrt. Dabei ist Data Literacy doch so viel mehr: Wir brauchen die anwenderbezogene Perspektive und müssen schon den Schülerinnen und Schülern vermitteln, dass Datenanalysen für einen bestimmten Zweck bestimmt sind, wir sie in den unterschiedlichsten Bereichen brauchen und sie unser Leben nachhaltig prägen. Data Literacy ist also nichts Abstraktes, sondern hat sehr wohl mit dem echten Leben zu tun.
Wie kann Data Literacy sinnvoll gemessen und getestet werden?
Schüller › Dafür braucht es unbedingt einen gültigen Kompetenzrahmen, der von einem allgemein anerkannten Kompetenzteam entwickelt wurde. Und innerhalb dieses Kompetenzrahmens müssen die Kompetenzen so weit runtergebrochen und operationalisiert sein, dass man sie wirklich messen und testen kann. Bezogen auf die Schule, müsste also zum Beispiel festgelegt sein, über welches Niveau an Datenkompetenz die Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule, nach der Mittleren Reife und nach der Hochschulreife verfügen sollten. Und das lässt sich natürlich auch noch für die Ausbildung beziehungsweise für das Studium weiterführen. Von einem solchen Kompetenzrahmen sind wir aber noch ein ganzes Stück entfernt.