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Gesellschaft

»Daten erzählen Geschichten«

Monat für Monat hinterlassen Milliarden Nutzer Spuren im Netz. Kann man daraus ein Leben rekonstruieren? Das untersuchte die Künstlergruppe Laokoon mit „MADE TO MEASURE“ und erschrak selbst über das Ergebnis. Was sie mit ihrem Experiment bewirken wollen, erzählen Cosima Terrasse, Moritz Riesewieck und Hans Block.

Das Interview führte Maren Beck

Gruppenfoto von der Künstlergruppe Laokoon, Moritz Riesewieck, Hans Block und Cosima Terrasse

Frau Terrasse, Herr Riesewieck, Herr Block, haben Sie heute schon gegoogelt?

Cosima Terrasse › Wenn es geht, versuchen wir Alternativen zu nutzen, wie DuckDuckGo, eine Suchmaschine ohne Tracking.

Hans Block › Ja, aber mein Browserverlauf ist heute sehr langweilig. Ich habe geguckt, ob eine Regieassistenz bei der Künstlersozialkasse angemeldet werden muss, und habe ein Interview mit Robert Habeck gesucht.

In Ihrem Experiment „MADE TO MEASURE“ sind Sie der Frage nachgegangen, ob man anhand von gesammelten Suchanfrage-Daten das Leben eines Menschen rekonstruieren kann. Das Ergebnis ist eindeutig: Man kann. Waren Sie überrascht?

Terrasse › Schon, ja. Dass man Äußerlichkeiten wie Geschlecht, Alter, Herkunft, einzelne Interessen oder den Job von jemandem gut herausfinden kann, damit haben wir gerechnet. Aber in welchem Maß man die Persönlichkeit, die Wünsche und Ängste nachvollziehen kann und sogar Dinge, die man über sich selbst vielleicht gar nicht richtig begreift, das hat uns schon überrascht.

»In welchem Maß man die Persönlichkeit, die Wünsche und Ängste einer Person nachvollziehen kann, hat uns schon überrascht.«

Cosima Terrasse Künstlergruppe Laokoon

Wie ist die Idee zu „MADE TO MEASURE“ entstanden?

Terrasse › Es gibt viele Studien, die behaupten, dass man die Persönlichkeit eines Menschen anhand von Daten besser einschätzen kann, als Freunde oder gar die Familie es könnten. Das hat uns neugierig gemacht. Welche Informationen werden täglich von Unternehmen von uns gespeichert, und welche Geschichten erzählen diese Daten? Sind wir Menschen tatsächlich so berechenbar, wie es Big Data und der Einsatz von Algorithmen uns immer weismachen wollen? Mit unserem Datenexperiment wollten wir genau das herausfinden. Wir haben eine Doppelgängerin eines Menschen erschaffen allein auf der Grundlage von Daten. Und mithilfe einer Performerin wurden diese trockenen Annahmen, die wir aus den Daten gewonnen haben, plötzlich eine leibhaftige und eindrückliche Geschichte.

»Algorithmen arbeiten mit Annahmen. Wir bekommen also eine Vermutung gespiegelt, wer wir sind und zu sein haben.«

Moritz Riesewieck Künstlergruppe Laokoon

Sie haben für „MADE TO MEASURE“ mit einer Datenanalystin zusammengearbeitet – wie lief das genau ab?

Block › Unsere Arbeitsbasis war eine Datenspende, ein komplett anonymisierter Datensatz. Wir haben uns entschieden, nur einen Teil dieser Daten zu nutzen, wie Suchverläufe, Google-Maps-Daten, Einkäufe, die Youtube-Watchlist. Das Material war reichhaltig, denn beim Suchen im Netz denkt man nicht daran, dass ein anderer mitliest, und formuliert ungefiltert. Die Datenanalystin Katja Dittrich hat beispielsweise die Suchbegriffe der Google-Suchen semantisch analysiert und in Kategorien unterteilt. Ein Algorithmus hat dann aus diesen Begriffen und den Metadaten wie etwa Zugriffsort, Nutzungsdauer oder genutztes Gerät einen Kontext sichtbar gemacht. Plötzlich waren in den fünf Jahren, die wir betrachtet haben, deutliche Lebensphasen zu erkennen, die man mit bloßem Auge nicht hätte erkennen können. Bei unserer Protagonistin spielte beispielsweise das Patisserie-Handwerk eine Zeitlang eine wichtige Rolle, und dann plötzlich verschwand das Thema wieder.

Moritz Riesewieck › Man kann auch viel über den Gemütszustand herausfinden. Wann benutzt die Person positive Wörter, wann negativ besetzte? Aber: Das sind Annahmen. Wir haben bis zum Schluss vermutet, dass unsere Analyse einer Realität entspricht. Oft lagen wir aber falsch, da wir den Kontext nicht kannten und Begriffe falsch gedeutet haben. So arbeiten Algorithmen. Sie machen Annahmen darüber, was uns wichtig ist, und zeigen uns Werbung für Produkte, an denen wir gemäß ihrer Annahme Interesse haben sollten. Wir bekommen also eine Vermutung gespiegelt, wer wir sind und zu sein haben. Diese Annahmen wiederum machen etwas mit unserem Selbstbild.

Was erhoffen Sie sich von der Rezeption Ihres Kunstwerks?

Block › Wir versuchen Leute zu erreichen, die keine Zeit haben, den ganzen Tag Netzpolitik-Artikel zu lesen. Bei ihnen wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, was es eigentlich heißt, Cookie-Banner einfach zu akzeptieren, Datenspuren zu hinterlassen. Was passiert da im Hintergrund? Das machen wir sichtbar. Als Folge könnte dann vielleicht bewusster gewählt werden, da man eher eine Partei ankreuzt, die sich für Datenschutz einsetzt. Das Problem kann eben leider nicht individuell gelöst werden, es braucht Regularien auf politischer Ebene. Auch wenn die DSGVO viele richtige Ansätze hat: Private Unternehmen finden immer wieder Lücken, diese Verordnungen zu umgehen.

Terrasse › Als Künstler war es uns auch wichtig, die Frage zu stellen, wie sich der Mensch mit dieser Technologie entwickelt und wie sich andersherum die Technologien mit dem Menschen entwickeln. Wie verändern sich unsere Identitäten? Durch die Daten gibt es eine perfekte Aufzeichnung von allem, was wir machen und denken. Das beeinflusst, wie wir unser eigenes Ich konzipieren. Deshalb waren wir so fasziniert von dieser philosophischen Frage, wie es ist, wenn ein digitaler Speicher auf eine Person trifft, die sich einfach nur erinnert.

Block › Das ist auch genau die Frage: Wer hat hier mehr recht? Der faktisch evidente Speicher oder der Mensch, der vergisst, verdrängt und Erinnerungslücken aufweist? Da kommt ein neues Narrativ ins Spiel: Sind es wirklich die Datenunternehmen, die jetzt die Hoheit über unsere eigene Erzählung haben dürfen? Diese Frage wollten wir aufwerfen.

Welche Rolle sollte die Kunst einnehmen in der Debatte um den achtsamen und verantwortungsbewussten Umgang mit Daten?

Riesewieck › Was uns betrifft, wir nennen uns Laokoon nach dem Seher, der das Trojanische Pferd als Betrug erkannt hat. Er hat damit wohl eine der ersten Black Boxes enthüllt. An diesem Beispiel orientieren wir uns in dieser digitalen Zeit, wo es von Black Boxes wimmelt. Zum Beispiel Algorithmen, also Gebilden, die kaum einer von uns wirklich durchdringt. Hier wollen wir Einblicke erlauben, wie sie funktionieren, und zeigen, dass ihre Werte mitnichten naturgegeben sind, sondern menschengemacht. Daraus spricht also immer eine bestimmte Vorstellung, wie der Mensch ist oder zu sein hat. Wir erkunden dies mit unseren Projekten auf philosophische und psychologische Art. Im Grunde versuchen wir so etwas wie Laokoon des digitalen Zeitalters zu sein.

Block › Das Prinzip der Sichtbarmachung ist uns sehr wichtig. Darum sind für uns auch die digitalen Themen so interessant, weil dabei viel im Unsichtbaren stattfindet. Und die Kunst, das Theater, bietet das Mittel, etwas sichtbar zu machen, auf die Bühne zu heben, was sonst im Verborgenen stattfindet.

Sie befassen sich bereits seit einigen Jahren mit Big Data. Was reizt Sie als Künstler an diesem Thema?

Block › Als Theatermacher, also Geschichtenerzähler, ist Big Data so interessant, weil daraus eine neue Kulturtechnik des Erzählens entstanden ist: Daten erzählen Geschichten. Und zwar viele und immerzu. Diese Erzählungen können positiv sein, etwa wenn Krebsforschung durch neue Früherkennungssysteme vorangetrieben wird. Aber es gibt auch gefährliche Erzählungen. Zum Beispiel, wenn anhand bestimmter Datenpunkte in einem Leben beurteilt wird, ob ein Mensch in Zukunft kriminell wird. Das macht uns schon Sorge, und deshalb überprüfen und durchkneten und wenden wir diese Erzählungen in unseren Projekten.

Terrasse › Es ist zudem spannend, als Künstler über Big Data nachzudenken und dies als Teil des Systems selbst zu tun, denn wir nutzen ja den digitalen Raum für unsere Erzählungen. Das beeinflusst diesen wiederum.

Mit dem preisgekrönten Dokumentarfilm „THE CLEANERS“ haben Sie bereits vor drei Jahren ein kontroverses Thema aufgegriffen. Womit befassen Sie sich in Ihrem nächsten Projekt?

Riesewieck › Wir machen in Kürze an den Münchner Kammerspielen eine Theaterarbeit namens „Wo du mich findest“. Dabei werden die Zuschauer zu Spurensuchern. Sie finden eine verlassene Wohnung vor und werden dann anhand von Daten herausfinden, wer dort gelebt hat und was mit diesem Menschen passiert ist.

Worin sehen Sie das Potential des technologischen Wandels und der fortschreitenden Digitalisierung?

Terrasse › Im Grunde geht gerade ein Traum der Wissenschaft in Erfüllung. Mit Big Data sammeln wir massenweise Erkenntnisse über die Menschheit. Darin verbirgt sich ein riesiges Potential, Fragen zu beantworten, die wir uns schon immer gestellt haben. Gleichzeitig wollen diese Erkenntnisse aber etwas von uns. Das ist die Schwierigkeit: Wir wissen mehr als je zuvor, aber gleichzeitig wissen wir noch nicht, was damit zu tun ist.

Riesewieck › Wir begreifen gerade erst, was wir mit Daten anfangen können, wenn wir es nicht nur Unternehmen überlassen, Algorithmen zu entwickeln, Daten zu erheben und damit zu arbeiten. Die große Herausforderung ist, das Recht auf den Schutz der eigenen Daten abzuwägen gegen das Recht der Gesellschaft, Daten zum Wohle aller einzusetzen. Wenn wir mehr Klarheit und Ideen darüber gewonnen haben, was wir mit Daten anfangen wollen, können wir die Strukturen dafür schaffen. Auf jeden Fall sollte sich das aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickeln und nicht von oben angesagt werden.

»Sind es wirklich die Datenunternehmen, die jetzt die Hoheit über unsere eigene Erzählung haben dürfen?«

Hans Block Künstlergruppe Laokoon

Was verstehen Sie aus Ihrer Perspektive unter Corporate Digital Responsibility, und welchen Stellenwert sollte sie in unserer Gesellschaft haben?

Block › Bei dem Thema denken wir natürlich sofort an einige wenige Unternehmen und ihre digitale Übermacht. Ihr Einfluss auf das gesellschaftliche Leben weltweit ist hoch, sie machen mehr oder weniger Politik. Das merkt man beispielsweise daran, dass die eigentliche Politik nur noch auf diese Infrastruktur reagieren kann und immer mehr nationalstaatliche Bereiche von den Unternehmen besetzt werden. Hier besteht eine Macht-Asymmetrie. Einige Aktivisten gehen dagegen an, klagen etwa gegen konkrete Datenschutzverletzungen, aber es gibt kaum Konsequenzen für diese Firmen – Strafzahlungen tun ihnen nicht weh. Wichtig ist, dass solche Datenschutz-Engagements stärker in die Gesellschaft reingetragen werden. Wenn Menschen Verstöße auf ihr eigenes Leben beziehen können und begreifen, dass gegen geltendes Recht verstoßen wird, dass zum Beispiel mit Gesundheitsdaten gehandelt wird, dass Daten weitergereicht werden, die nicht weitergereicht werden dürfen, dann steigt das Bewusstsein dafür, dass hier etwas nicht stimmt und wir etwas verändern müssen. Wir müssen den Mut haben, diese Verantwortung gemeinschaftlich tragen zu wollen, und lernen, diese neue digitale Infrastruktur für gesellschaftliche Zwecke zu nutzen und nicht nur für den Profit einzelner Unternehmen. Von alleine regelt sich das nicht.

Gruppenfoto von der Künstlergruppe Laokoon

Künstlergruppe Laokoon

Die Künstlergruppe Laokoon will die trojanischen Pferde unserer Zeit enthüllen. Ihre Projekte beginnen mit Untersuchungen und enden als komplexe Erzählungen, die sich mit politischen und philosophischen Fragen im digitalen Zeitalter befassen. Aus der Recherche zur digitalen Content Moderation entwickelte sie das Theaterstück „NACH MANILA“ und den Dokumentarfilm „THE CLEANERS“, der am Sundance Filmfestival 2018 Premiere feierte. Gegründet wurde Laokoon von den Theater- und Filmregisseuren Moritz Riesewieck und Hans Block, 2019 stieß die Künstlerin und Landschaftsarchitektin Cosima Terrasse hinzu. Block und Riesewieck veröffentlichten 2020 das Buch „Die digitale Seele“.