Frau Terrasse, Herr Riesewieck, Herr Block, haben Sie heute schon gegoogelt?
Cosima Terrasse › Wenn es geht, versuchen wir Alternativen zu nutzen, wie DuckDuckGo, eine Suchmaschine ohne Tracking.
Hans Block › Ja, aber mein Browserverlauf ist heute sehr langweilig. Ich habe geguckt, ob eine Regieassistenz bei der Künstlersozialkasse angemeldet werden muss, und habe ein Interview mit Robert Habeck gesucht.
In Ihrem Experiment „MADE TO MEASURE“ sind Sie der Frage nachgegangen, ob man anhand von gesammelten Suchanfrage-Daten das Leben eines Menschen rekonstruieren kann. Das Ergebnis ist eindeutig: Man kann. Waren Sie überrascht?
Terrasse › Schon, ja. Dass man Äußerlichkeiten wie Geschlecht, Alter, Herkunft, einzelne Interessen oder den Job von jemandem gut herausfinden kann, damit haben wir gerechnet. Aber in welchem Maß man die Persönlichkeit, die Wünsche und Ängste nachvollziehen kann und sogar Dinge, die man über sich selbst vielleicht gar nicht richtig begreift, das hat uns schon überrascht.
»In welchem Maß man die Persönlichkeit, die Wünsche und Ängste einer Person nachvollziehen kann, hat uns schon überrascht.«
Cosima Terrasse Künstlergruppe Laokoon
Wie ist die Idee zu „MADE TO MEASURE“ entstanden?
Terrasse › Es gibt viele Studien, die behaupten, dass man die Persönlichkeit eines Menschen anhand von Daten besser einschätzen kann, als Freunde oder gar die Familie es könnten. Das hat uns neugierig gemacht. Welche Informationen werden täglich von Unternehmen von uns gespeichert, und welche Geschichten erzählen diese Daten? Sind wir Menschen tatsächlich so berechenbar, wie es Big Data und der Einsatz von Algorithmen uns immer weismachen wollen? Mit unserem Datenexperiment wollten wir genau das herausfinden. Wir haben eine Doppelgängerin eines Menschen erschaffen allein auf der Grundlage von Daten. Und mithilfe einer Performerin wurden diese trockenen Annahmen, die wir aus den Daten gewonnen haben, plötzlich eine leibhaftige und eindrückliche Geschichte.
»Algorithmen arbeiten mit Annahmen. Wir bekommen also eine Vermutung gespiegelt, wer wir sind und zu sein haben.«
Moritz Riesewieck Künstlergruppe Laokoon
Sie haben für „MADE TO MEASURE“ mit einer Datenanalystin zusammengearbeitet – wie lief das genau ab?
Block › Unsere Arbeitsbasis war eine Datenspende, ein komplett anonymisierter Datensatz. Wir haben uns entschieden, nur einen Teil dieser Daten zu nutzen, wie Suchverläufe, Google-Maps-Daten, Einkäufe, die Youtube-Watchlist. Das Material war reichhaltig, denn beim Suchen im Netz denkt man nicht daran, dass ein anderer mitliest, und formuliert ungefiltert. Die Datenanalystin Katja Dittrich hat beispielsweise die Suchbegriffe der Google-Suchen semantisch analysiert und in Kategorien unterteilt. Ein Algorithmus hat dann aus diesen Begriffen und den Metadaten wie etwa Zugriffsort, Nutzungsdauer oder genutztes Gerät einen Kontext sichtbar gemacht. Plötzlich waren in den fünf Jahren, die wir betrachtet haben, deutliche Lebensphasen zu erkennen, die man mit bloßem Auge nicht hätte erkennen können. Bei unserer Protagonistin spielte beispielsweise das Patisserie-Handwerk eine Zeitlang eine wichtige Rolle, und dann plötzlich verschwand das Thema wieder.
Moritz Riesewieck › Man kann auch viel über den Gemütszustand herausfinden. Wann benutzt die Person positive Wörter, wann negativ besetzte? Aber: Das sind Annahmen. Wir haben bis zum Schluss vermutet, dass unsere Analyse einer Realität entspricht. Oft lagen wir aber falsch, da wir den Kontext nicht kannten und Begriffe falsch gedeutet haben. So arbeiten Algorithmen. Sie machen Annahmen darüber, was uns wichtig ist, und zeigen uns Werbung für Produkte, an denen wir gemäß ihrer Annahme Interesse haben sollten. Wir bekommen also eine Vermutung gespiegelt, wer wir sind und zu sein haben. Diese Annahmen wiederum machen etwas mit unserem Selbstbild.
Was erhoffen Sie sich von der Rezeption Ihres Kunstwerks?
Block › Wir versuchen Leute zu erreichen, die keine Zeit haben, den ganzen Tag Netzpolitik-Artikel zu lesen. Bei ihnen wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, was es eigentlich heißt, Cookie-Banner einfach zu akzeptieren, Datenspuren zu hinterlassen. Was passiert da im Hintergrund? Das machen wir sichtbar. Als Folge könnte dann vielleicht bewusster gewählt werden, da man eher eine Partei ankreuzt, die sich für Datenschutz einsetzt. Das Problem kann eben leider nicht individuell gelöst werden, es braucht Regularien auf politischer Ebene. Auch wenn die DSGVO viele richtige Ansätze hat: Private Unternehmen finden immer wieder Lücken, diese Verordnungen zu umgehen.
Terrasse › Als Künstler war es uns auch wichtig, die Frage zu stellen, wie sich der Mensch mit dieser Technologie entwickelt und wie sich andersherum die Technologien mit dem Menschen entwickeln. Wie verändern sich unsere Identitäten? Durch die Daten gibt es eine perfekte Aufzeichnung von allem, was wir machen und denken. Das beeinflusst, wie wir unser eigenes Ich konzipieren. Deshalb waren wir so fasziniert von dieser philosophischen Frage, wie es ist, wenn ein digitaler Speicher auf eine Person trifft, die sich einfach nur erinnert.
Block › Das ist auch genau die Frage: Wer hat hier mehr recht? Der faktisch evidente Speicher oder der Mensch, der vergisst, verdrängt und Erinnerungslücken aufweist? Da kommt ein neues Narrativ ins Spiel: Sind es wirklich die Datenunternehmen, die jetzt die Hoheit über unsere eigene Erzählung haben dürfen? Diese Frage wollten wir aufwerfen.
Welche Rolle sollte die Kunst einnehmen in der Debatte um den achtsamen und verantwortungsbewussten Umgang mit Daten?
Riesewieck › Was uns betrifft, wir nennen uns Laokoon nach dem Seher, der das Trojanische Pferd als Betrug erkannt hat. Er hat damit wohl eine der ersten Black Boxes enthüllt. An diesem Beispiel orientieren wir uns in dieser digitalen Zeit, wo es von Black Boxes wimmelt. Zum Beispiel Algorithmen, also Gebilden, die kaum einer von uns wirklich durchdringt. Hier wollen wir Einblicke erlauben, wie sie funktionieren, und zeigen, dass ihre Werte mitnichten naturgegeben sind, sondern menschengemacht. Daraus spricht also immer eine bestimmte Vorstellung, wie der Mensch ist oder zu sein hat. Wir erkunden dies mit unseren Projekten auf philosophische und psychologische Art. Im Grunde versuchen wir so etwas wie Laokoon des digitalen Zeitalters zu sein.
Block › Das Prinzip der Sichtbarmachung ist uns sehr wichtig. Darum sind für uns auch die digitalen Themen so interessant, weil dabei viel im Unsichtbaren stattfindet. Und die Kunst, das Theater, bietet das Mittel, etwas sichtbar zu machen, auf die Bühne zu heben, was sonst im Verborgenen stattfindet.