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Gesellschaft

»Digitale Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor«

Die Digitalisierung ist ein wichtiger Faktor für die Teilhabe an der Gesellschaft. Was bedeutet das für jeden Einzelnen – und welche Verantwortung tragen Unternehmen? Ein Interview mit Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Initiative D21 e.V. und Mitglied im Beirat Junge Digitale Wirtschaft beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

Das Interview führte Christina Lynn Dier

Fotografie von Lena-Sophie Müller vor einem unscharfen grünen Hintergrund

Frau Müller, die Initiative D21 liefert mit der großen Gesellschaftsstudie D21-Digital-Index ein jährliches Lagebild zum Digitalisierungsgrad der Gesellschaft in Deutschland. Wie ist denn die aktuelle Lage?

Lena-Sophie Müller › Die Digitalisierung in Deutschland schreitet voran, das Leben der Bürgerinnen und Bürger wird immer digitaler. Die Corona-Pandemie führte zusätzlich dazu, dass sich viele alltägliche Aktivitäten in den digitalen Raum verschoben – etwa Kommunikation, Bildung oder Einkaufen. Im Vergleich zu den Vorjahren zeigt der Digital-Index 2020/2021 nur eine leichte Steigerung. Spannend wird sein, ob sich beim nächsten Digital-Index ein großer, durch Corona ausgelöster Schub abzeichnet. Um den Digital-Index besser einschätzen zu können, muss man aber zunächst wissen, wie er sich zusammensetzt: Er wird anhand der unterschiedlich gewichteten Dimensionen Zugang, Nutzungsverhalten, Kompetenz und Offenheit berechnet. Am Ende erhalten wir eine Kennzahl zwischen null und 100. Die Null steht dabei für überhaupt nicht digitalaffin und die digitalen Möglichkeiten auch nicht nutzend, 100 bedeutet voll kompetent und der Digitalisierung gegenüber sehr offen eingestellt. Hier stehen wir aktuell bei einem Index von 60.

Hat Sie das Ergebnis überrascht, oder entspricht das Ihren Erwartungen?

Müller › Es überrascht mich gar nicht so sehr, dass der Digital-Index „nur“ bei 60 liegt. Wir müssen bedenken, dass die deutsche Gesellschaft sehr heterogen ist – wir haben also Offliner mit einem Indexwert von fünf genauso mit dabei wie den Nutzertypen Progressive Anwenderinnen und Anwender mit einem Indexwert von 80 Punkten. Fakt ist: Die Digitalisierung ist noch nicht im Alltag aller Menschen angekommen. Insgesamt 8,5 Millionen Menschen in Deutschland sind offline. Ein großer Teil davon sieht für sich keinen Vorteil im Internet, ist also auch nicht unglücklich ohne digitalen Zugang. Wenn eine Person den Bezug zur Digitalisierung im Alltag nicht hat, dann glaubt sie auch nicht daran, dass sie von der Digitalisierung in besonderem Maße profitieren kann. Diese Unterschiede korrelieren übrigens stark mit dem Bildungsgrad: 74 Prozent der Höhergebildeten sind der Meinung, dass sie von der Digitalisierung profitieren, während das bei Menschen mit geringerer Bildung nur 32 Prozent glauben. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen in Deutschland den Nutzen der Digitalisierung noch stärker für sich erkennen – im privaten wie im beruflichen Bereich.

»Digitale Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor. In Deutschland fühlen sich rund sieben Prozent der Offliner abgehängt – sollte diese Zahl weiter steigen, dann wird es zu einem gesellschaftlichen Problem.«

Ist die Corona-Pandemie eine Art Weckruf für die Digitalisierung in Deutschland?

Müller › Ja, definitiv. Aber die viel spannendere Frage ist doch, wie es nach der Pandemie weitergeht. Verfallen wir dann wieder in den analogen Schlaf? Ich denke, wir werden drei Szenarien erleben: Es wird Bereiche geben, in denen das Pendel zurückschlägt und der Zustand vor Corona wieder eintritt – aus meiner Sicht eine verpasste Chance. Dann werden wir Bereiche sehen, die im Verlauf der Pandemie Schritte in die digitale Richtung gegangen sind und diesen Weg nun konsequent weiterverfolgen. Ich denke aber, am häufigsten werden viele Bereiche einen Mittelweg einschlagen, bei dem sie positive Aspekte aus Pandemiezeiten beibehalten. Bei dieser Entwicklung sehe ich die Unternehmen in einer großen Verantwortung. Jetzt, wo wir uns langsam aus dem Krisenmodus herausbewegen, müssen sich Unternehmenslenkerinnen und -lenker bereits Gedanken über die Zeit danach machen. Wie gestaltet man als Unternehmen Home-Office-Regelungen und mobiles Arbeiten? Müssen jetzt schon entsprechende Betriebsvereinbarungen geschlossen werden? Eines sollte nämlich nicht passieren: dass die Pandemie vorbei ist und die Führungskräfte deswegen schnell alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder zurück ins Büro holen, weil sie sich sonst in einer rechtlich unsicheren Situation bewegen.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den digitalen Reifegrad von Unternehmen in Deutschland?

Müller › Wenn wir uns nur mal den Bereich der Wissensarbeit anschauen, dann gibt es Unternehmen, die im ersten Lockdown überhaupt erst mal Hardware anschaffen und dafür sorgen mussten, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicher von zu Hause aus arbeiten können. Diese Unternehmen mussten sehr viele Ressourcen aufwenden, um arbeitsfähig zu werden, und hinken oft immer noch hinterher. Unternehmen hingegen, die diesen Schritt schon vor Corona gemacht hatten, konnten sofort loslegen und sich mit Fragestellungen beschäftigen, die sich beim dauerhaften Arbeiten im Homeoffice ergeben: Wie führe ich unter diesen Umständen ein Team verantwortungsvoll? Was macht das ständige Arbeiten von zu Hause aus mit den Menschen mental? Diese Unternehmen werden gegenüber den Erstgenannten zunächst einen Vorsprung haben.

»Die spannende Frage wird sein, wie es nach der Corona-Pandemie weitergeht: Verfallen wir dann wieder in den analogen Schlaf?«

Sie haben es angesprochen: In Deutschland sind knapp neun Millionen Menschen „Offliner“, haben keinen Zugang zum Internet. Wie groß ist die Gefahr einer digitalen Spaltung?

Müller › Digitale Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor. In Deutschland fühlen sich rund sieben Prozent der Offliner abgehängt – sollte diese Zahl weiter steigen, dann wird es zu einem gesellschaftlichen Problem. Denn die analoge Eisscholle, auf der sich die Offliner befinden, wird immer kleiner. Das lässt sich zum Beispiel beim Fahrkartenkauf für den Öffentlichen Personennahverkehr erkennen: Tickets sind vielerorts deutlich leichter online erhältlich, weil Schalter geschlossen werden. Ähnliches gilt für Bankfilialen. Entweder schaffen Offliner den Sprung und öffnen sich der digitalen Welt, oder sie drohen den Anschluss zu verlieren. Es wäre viel gewonnen, wenn wir alle als Teil dieser Gesellschaft mehr Verantwortung übernehmen würden. Dazu gehört, dass Politik, Wirtschaft und Organisationen zielgruppenspezifischer vorgehen, die Menschen in ihrer jeweiligen Lebensrealität abholen und die Zugänge noch leichter gestalten. Politik und Bildungsträger müssen mehr formale, niederschwellige und bestenfalls kostenlose Angebote vor Ort auch in kleinen Gemeinden schaffen, an die sich Interessierte wenden können und die ihnen beim Einstieg helfen.

Gleichzeitig zeigt Ihre Studie, dass sich bestimmte Lücken gerade aufgrund der Corona-Pandemie derzeit wieder schließen…

Müller › Das stimmt. Wir messen viele multiple Spaltungen, es gibt nicht die eine digitale Spaltung. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel Vollzeitbeschäftigte häufiger mit digitalen Geräten ausgestattet als Teilzeitbeschäftigte. Das trifft vielfach – aber nicht nur – Frauen, da sie häufiger in Teilzeit arbeiten. Es kann gut sein, dass sich dieser Gap schließt, weil Unternehmen durch Corona zum einen beim Equipment deutlich nachlegen mussten und zum anderen eben für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Prämisse des mobilen Arbeitens galt. Auch bei der Internetnutzung nach Altersgruppe, also Jung und Alt, sehen wir, dass immer mehr ältere Menschen hinzukommen. Die Corona-Pandemie war gewissermaßen ein Treiber, um sich mit der digitalen Welt auseinanderzusetzen. Es bleibt nun zu beobachten, ob sich an anderen Stellen wieder neue Gaps bilden – etwa, wenn es darum geht, ob ich die notwendigen digitalen Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt der Zukunft besitze.

Stichwort „Digital Gender Gap“: Es gibt nach wie vor Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Digitalisierungsgrad. Wie erklären Sie sich das?

Müller › Es sind vielfach systemische Herausforderungen, die es zu überwinden gilt. In Deutschland existieren immer noch ganz bestimmte Rollenbilder, und insbesondere in Krisenzeiten besteht die Gefahr, in diese alten Muster zurückzufallen. Arbeitgeber sind daher gerade in einer digitalisierten Welt in der Pflicht, Geschlechterungleichheiten in der Berufswelt abzubauen. Es ist eben keine reine Privatangelegenheit, wie Männer und Frauen sich beispielsweise die Kindererziehung aufteilen – wenn wir eine Veränderung wollen, müssen auch Unternehmen diese systemischen Rahmenbedingungen in ihren Diversity- und Inklusionsstrategien berücksichtigen.

Welche konkreten Lösungsansätze gibt es, um Geschlechterunterschiede zu überwinden?

Müller › Wir alle müssen täglich daran mitwirken, um gewisse Muster aufzubrechen, die sich über die Jahre und Jahrzehnte eingeschlichen haben. Um ein Beispiel zu nennen: Gleichstellungsthemen werden auf Podien oder in Talkshows meistens von Frauen diskutiert. Dabei müssten doch gerade die männlichen Entscheider in Unternehmen und in den Ministerämtern sagen: Ich möchte, dass sich etwas ändert, daher diskutiere ich dieses Thema. Gleichstellung ist kein Frauenthema, es betrifft die Gesellschaft als Ganzes und ist mit dem Blick auf den Fachkräftemangel in Deutschland auch ein Wirtschaftsthema. Daher sind hier auch Wirtschaft und Politik gefragt. Unternehmen müssen sich bewusst sein, dass es in ihrer Verantwortung liegt, ein Signal nach außen und nach innen an die Belegschaft zu senden, dass sie die Thematik Gleichstellung ernst nehmen und auch wirklich einen messbaren Wandel herbeiführen möchten. Nur so lassen sich Gender Gaps gemeinsam schließen.

»Gleichstellung ist kein Frauenthema, es betrifft die Gesellschaft als Ganzes. Daher sind hier auch Wirtschaft und Politik gefragt.«

Werfen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Welche Kompetenzen braucht jeder Einzelne, um die Herausforderungen der Digitalisierung chancenorientiert nutzen zu können?

Müller › Ganz grundsätzlich werden fünf Kompetenzen in den Fokus rücken: erstens die Fähigkeit, Informationen in der digitalen Welt suchen und verarbeiten zu können. Zweitens die Kommunikation, also die Fähigkeit, mich mit anderen austauschen und zusammenarbeiten zu können. Drittens die Kompetenz, digitale Inhalte wie etwa Textdokumente zu erstellen, ein Formular online auszufüllen oder Inhalte ins Internet einzustellen. Viertens wird das Thema Sicherheit immer wichtiger: Das bezieht sich auf die IT-Sicherheit und Datenschutz, aber auch auf den Schutz für das eigene Wohlbefinden. Wann tut mir die ganze Digitalisierung nicht mehr gut, wann muss ich beispielsweise Abstand von den sozialen Medien nehmen? Aber auch Aspekte, welche Auswirkungen unser Digitalverhalten auf die Umwelt hat und wie der digitale Fußabdruck aussieht, spielen hier eine Rolle. Und fünftens schließlich Problemlösungskompetenzen: Kann ich mir die digitale Welt so erschließen, dass ich einen Lösungsweg finde? Zum Beispiel mit Hilfe eines Youtube-Videos, einer Recherche in bestimmten Foren oder einer Nachfrage in meinen sozialen Netzwerken. Diese letzte Kompetenz ist sehr relevant, denn sie hat mit Lernfreude und Neugierde zu tun. Wenn man den Blick von dem Einzelnen auf die digitale Unternehmensverantwortung lenkt, dann wird klar, dass die Unternehmenslenkerinnen und -lenker strategisch nach vorne denken müssen. Welche Fähigkeiten brauchen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft? Die Antwort sollten dann konkrete Maßnahmen zum Aufbau und zur Erweiterung digitaler Kompetenzen oder Umschulungen umfassen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter optimal auf Herausforderungen der digitalen Zukunft vorzubereiten.

Porträt von Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Initiative D21 e.V.

Lena-Sophie Müller

Lena-Sophie Müller ist seit 2014 Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Initiative D21 e.V. Es ist ihr Anliegen, die gesellschaftlichen Implikationen der Digitalisierung in Deutschland aufzuzeigen und positiv mitzugestalten. Vor der Initiative D21 arbeitete sie seit 2008 als Wissenschaftlerin am Fraunhofer-Institut FOKUS in Berlin und hat dort zahlreiche Verwaltungsmodernisierungs- und E-Government-Projekte mit der Industrie und der öffentlichen Verwaltung auf EU-, Bundes-, Landes- und Kommunalebene geleitet. Lena-Sophie Müller studierte Politikwissenschaft in Sydney (Australien) und Potsdam.

„Digital Future Challenge“ 2021

Die „Digital Future Challenge“ ist eine gemeinsame Initiative der Deloitte-Stiftung und der Initiative D21, mit dem Ziel, unternehmerische Verantwortung im Zuge der Digitalisierung, sprich Corporate Digital Responsibility (CDR), zu beleuchten. Die Initiative ruft bundesweit Studierende auf, anhand konkreter Praxisbeispiele von Unternehmen digital-ethische Leitprinzipien zu erarbeiten. Dazu treten interdisziplinäre und diverse Projektteams in den Wettbewerb um die besten, kreativsten und nachhaltigsten Ideen. Das Finale findet Ende August 2021 statt, bei der eine hochkarätige Jury aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Siegerinnen und Sieger kürt.

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