Frau Müller, die Initiative D21 liefert mit der großen Gesellschaftsstudie D21-Digital-Index ein jährliches Lagebild zum Digitalisierungsgrad der Gesellschaft in Deutschland. Wie ist denn die aktuelle Lage?
Lena-Sophie Müller › Die Digitalisierung in Deutschland schreitet voran, das Leben der Bürgerinnen und Bürger wird immer digitaler. Die Corona-Pandemie führte zusätzlich dazu, dass sich viele alltägliche Aktivitäten in den digitalen Raum verschoben – etwa Kommunikation, Bildung oder Einkaufen. Im Vergleich zu den Vorjahren zeigt der Digital-Index 2020/2021 nur eine leichte Steigerung. Spannend wird sein, ob sich beim nächsten Digital-Index ein großer, durch Corona ausgelöster Schub abzeichnet. Um den Digital-Index besser einschätzen zu können, muss man aber zunächst wissen, wie er sich zusammensetzt: Er wird anhand der unterschiedlich gewichteten Dimensionen Zugang, Nutzungsverhalten, Kompetenz und Offenheit berechnet. Am Ende erhalten wir eine Kennzahl zwischen null und 100. Die Null steht dabei für überhaupt nicht digitalaffin und die digitalen Möglichkeiten auch nicht nutzend, 100 bedeutet voll kompetent und der Digitalisierung gegenüber sehr offen eingestellt. Hier stehen wir aktuell bei einem Index von 60.
Hat Sie das Ergebnis überrascht, oder entspricht das Ihren Erwartungen?
Müller › Es überrascht mich gar nicht so sehr, dass der Digital-Index „nur“ bei 60 liegt. Wir müssen bedenken, dass die deutsche Gesellschaft sehr heterogen ist – wir haben also Offliner mit einem Indexwert von fünf genauso mit dabei wie den Nutzertypen Progressive Anwenderinnen und Anwender mit einem Indexwert von 80 Punkten. Fakt ist: Die Digitalisierung ist noch nicht im Alltag aller Menschen angekommen. Insgesamt 8,5 Millionen Menschen in Deutschland sind offline. Ein großer Teil davon sieht für sich keinen Vorteil im Internet, ist also auch nicht unglücklich ohne digitalen Zugang. Wenn eine Person den Bezug zur Digitalisierung im Alltag nicht hat, dann glaubt sie auch nicht daran, dass sie von der Digitalisierung in besonderem Maße profitieren kann. Diese Unterschiede korrelieren übrigens stark mit dem Bildungsgrad: 74 Prozent der Höhergebildeten sind der Meinung, dass sie von der Digitalisierung profitieren, während das bei Menschen mit geringerer Bildung nur 32 Prozent glauben. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen in Deutschland den Nutzen der Digitalisierung noch stärker für sich erkennen – im privaten wie im beruflichen Bereich.
»Digitale Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor. In Deutschland fühlen sich rund sieben Prozent der Offliner abgehängt – sollte diese Zahl weiter steigen, dann wird es zu einem gesellschaftlichen Problem.«
Ist die Corona-Pandemie eine Art Weckruf für die Digitalisierung in Deutschland?
Müller › Ja, definitiv. Aber die viel spannendere Frage ist doch, wie es nach der Pandemie weitergeht. Verfallen wir dann wieder in den analogen Schlaf? Ich denke, wir werden drei Szenarien erleben: Es wird Bereiche geben, in denen das Pendel zurückschlägt und der Zustand vor Corona wieder eintritt – aus meiner Sicht eine verpasste Chance. Dann werden wir Bereiche sehen, die im Verlauf der Pandemie Schritte in die digitale Richtung gegangen sind und diesen Weg nun konsequent weiterverfolgen. Ich denke aber, am häufigsten werden viele Bereiche einen Mittelweg einschlagen, bei dem sie positive Aspekte aus Pandemiezeiten beibehalten. Bei dieser Entwicklung sehe ich die Unternehmen in einer großen Verantwortung. Jetzt, wo wir uns langsam aus dem Krisenmodus herausbewegen, müssen sich Unternehmenslenkerinnen und -lenker bereits Gedanken über die Zeit danach machen. Wie gestaltet man als Unternehmen Home-Office-Regelungen und mobiles Arbeiten? Müssen jetzt schon entsprechende Betriebsvereinbarungen geschlossen werden? Eines sollte nämlich nicht passieren: dass die Pandemie vorbei ist und die Führungskräfte deswegen schnell alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder zurück ins Büro holen, weil sie sich sonst in einer rechtlich unsicheren Situation bewegen.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf den digitalen Reifegrad von Unternehmen in Deutschland?
Müller › Wenn wir uns nur mal den Bereich der Wissensarbeit anschauen, dann gibt es Unternehmen, die im ersten Lockdown überhaupt erst mal Hardware anschaffen und dafür sorgen mussten, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicher von zu Hause aus arbeiten können. Diese Unternehmen mussten sehr viele Ressourcen aufwenden, um arbeitsfähig zu werden, und hinken oft immer noch hinterher. Unternehmen hingegen, die diesen Schritt schon vor Corona gemacht hatten, konnten sofort loslegen und sich mit Fragestellungen beschäftigen, die sich beim dauerhaften Arbeiten im Homeoffice ergeben: Wie führe ich unter diesen Umständen ein Team verantwortungsvoll? Was macht das ständige Arbeiten von zu Hause aus mit den Menschen mental? Diese Unternehmen werden gegenüber den Erstgenannten zunächst einen Vorsprung haben.
»Die spannende Frage wird sein, wie es nach der Corona-Pandemie weitergeht: Verfallen wir dann wieder in den analogen Schlaf?«
Sie haben es angesprochen: In Deutschland sind knapp neun Millionen Menschen „Offliner“, haben keinen Zugang zum Internet. Wie groß ist die Gefahr einer digitalen Spaltung?
Müller › Digitale Ungleichheit ist weltweit ein Risikofaktor. In Deutschland fühlen sich rund sieben Prozent der Offliner abgehängt – sollte diese Zahl weiter steigen, dann wird es zu einem gesellschaftlichen Problem. Denn die analoge Eisscholle, auf der sich die Offliner befinden, wird immer kleiner. Das lässt sich zum Beispiel beim Fahrkartenkauf für den Öffentlichen Personennahverkehr erkennen: Tickets sind vielerorts deutlich leichter online erhältlich, weil Schalter geschlossen werden. Ähnliches gilt für Bankfilialen. Entweder schaffen Offliner den Sprung und öffnen sich der digitalen Welt, oder sie drohen den Anschluss zu verlieren. Es wäre viel gewonnen, wenn wir alle als Teil dieser Gesellschaft mehr Verantwortung übernehmen würden. Dazu gehört, dass Politik, Wirtschaft und Organisationen zielgruppenspezifischer vorgehen, die Menschen in ihrer jeweiligen Lebensrealität abholen und die Zugänge noch leichter gestalten. Politik und Bildungsträger müssen mehr formale, niederschwellige und bestenfalls kostenlose Angebote vor Ort auch in kleinen Gemeinden schaffen, an die sich Interessierte wenden können und die ihnen beim Einstieg helfen.
Gleichzeitig zeigt Ihre Studie, dass sich bestimmte Lücken gerade aufgrund der Corona-Pandemie derzeit wieder schließen…
Müller › Das stimmt. Wir messen viele multiple Spaltungen, es gibt nicht die eine digitale Spaltung. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel Vollzeitbeschäftigte häufiger mit digitalen Geräten ausgestattet als Teilzeitbeschäftigte. Das trifft vielfach – aber nicht nur – Frauen, da sie häufiger in Teilzeit arbeiten. Es kann gut sein, dass sich dieser Gap schließt, weil Unternehmen durch Corona zum einen beim Equipment deutlich nachlegen mussten und zum anderen eben für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Prämisse des mobilen Arbeitens galt. Auch bei der Internetnutzung nach Altersgruppe, also Jung und Alt, sehen wir, dass immer mehr ältere Menschen hinzukommen. Die Corona-Pandemie war gewissermaßen ein Treiber, um sich mit der digitalen Welt auseinanderzusetzen. Es bleibt nun zu beobachten, ob sich an anderen Stellen wieder neue Gaps bilden – etwa, wenn es darum geht, ob ich die notwendigen digitalen Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt der Zukunft besitze.