Frau Koehler, der Einsatz von KI ist in vielen Bereichen unverzichtbar geworden. Wo aber trifft man ganz konkret im Alltag auf Künstliche Intelligenz?
Prof. Dr. Jana Koehler › Wir alle nutzen KI mehrmals am Tag und sind uns dessen oft gar nicht bewusst. Die Navigation im Auto, die Spracherkennung bei Geräten wie etwa Smartphones oder bei Alexa, das Fotografieren mit der Handykamera, die Empfehlungen im Online-Shop bei Amazon – all das sind Beispiele, bei denen KI-Algorithmen zum Einsatz kommen. Doch trotz dieses breiten Anwendungsgebietes sind viele Fragen zu den Eigenschaften bestimmter Algorithmen noch offen und müssen von der Forschung geklärt werden.
Was treibt Sie aktuell um?
Koehler › Die Spezialsysteme, die wir heute verwenden, können meist eine Aufgabe sehr gut lösen, aber wir können sie nicht auf andere Anwendungsbereiche übertragen ohne einen sehr hohen Entwicklungsaufwand, der durch menschliche Spezialisten erbracht werden muss. Jedes Unternehmen fängt also quasi wieder bei null an – dabei wiederholen sich gewisse Bausteine, Aufgaben und auch Anforderungen an die Qualität der Systeme. Es sollte uns also in Zukunft gelingen, Standardlösungen zu entwickeln, die mit geringem Aufwand angepasst werden können. Zum Beispiel arbeiten wir an einer Bibliothek von Musterlösungen, die bei Systemen zur Entscheidungsunterstützung zum Einsatz kommen und nur noch konfiguriert werden müssen. Dabei werden Prozessdaten automatisch nach dem Auftreten der Muster untersucht und diese aus der Bibliothek ausgewählt, um eine neue Anwendungslösung zu konfigurieren. Typische Anwendungen sind Entscheidungen zur Auswahl von Transportwegen oder die Verteilung von Produktionsaufträgen auf Maschinen.
Außerdem beschäftigt mich und mein Team auf dem Gebiet der Suchalgorithmen ein ganz aktuelles Thema: Wir arbeiten mit Kolleginnen und Kollegen aus der Bioinformatik zusammen und versuchen, bestimmte genetische Vorgänge in Zellen besser zu verstehen. Gerade jetzt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind diese Fragestellungen brisanter denn je: Wie funktionieren Ablesevorgänge in Zellen? Welche Gene sind aktiv, welche nicht? Was passiert da genau? Da kann KI sehr viel beitragen, um entsprechende Antworten zu finden.
»Wir alle nutzen Künstliche Intelligenz mehrmals am Tag und sind uns dessen oft gar nicht bewusst.«
Ist folglich der Gesundheitssektor eine der Branchen, in denen Sie durch KI besonders großes Veränderungspotential sehen?
Koehler › Das Veränderungspotential sehe ich eigentlich in allen Branchen. Wir werden in unserer Arbeit durch den weiteren technologischen Fortschritt große Veränderungen erleben. Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung noch einmal beschleunigt und verdeutlicht, dass gerade die Länder, die digital sehr gut aufgestellt sind, auch anderen Herausforderungen wie zum Beispiel Pandemien oder der Klimaveränderung besser gewachsen sein werden. Denn diese Länder erbringen einen Großteil ihrer Arbeit digital, Unternehmen konnten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schnell das nötige IT-Equipment für den Übergang ins Homeoffice zur Verfügung stellen und sind somit besser in der Lage, den Kontakt zu ihren Kunden zu halten und Umsatz zu generieren.
»Dadurch, dass Menschen flexibel, einfach und schnell zusammengebracht werden und sich organisieren können, entstehen mehr Freiräume und Kreativität.«
Werfen wir einen Blick auf das große Ganze: Welche Auswirkungen hat KI auf Inklusion und den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Koehler › Das lässt sich schwer abschätzen. Ich glaube vielmehr, dass man sich fragen muss, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf Inklusion und den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat – und nicht so sehr KI im Speziellen. Derzeit hat man fast den Eindruck, dass die Auswirkungen der Digitalisierung eher negativ als positiv empfunden werden, obwohl das nicht so sein müsste. Dank der fortschreitenden Digitalisierung sind viele Dinge möglich geworden, die vor noch nicht allzu langer Zeit undenkbar waren. Der Zugriff auf Informationen aller Art ist schier unendlich, die tägliche Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt ist selbstverständlich geworden. Dadurch, dass Menschen flexibel, einfach und schnell zusammengebracht werden und sich organisieren können, entstehen mehr Freiräume und Kreativität.
Und dennoch fühlen sich manche Menschen durch Technologie ausgegrenzt und abgehängt…
Koehler › Ja, das ist leider so. Viele Menschen spüren die Veränderungen durch die Digitalisierung, aber nur wenige haben den Eindruck, dass sie diese mitgestalten können. Die Digitalisierung ermöglicht, dass Arbeitsabläufe immer weiter zerlegt und fremdgesteuert werden können und so die Eigenverantwortung von Arbeitnehmenden weiter abnimmt. Beispiele sehen wir unter anderem in der Logistik, in der ganz unterschiedliche Dienstleister spezialisierte Teilaufgaben in der Logistikkette übernehmen. Der KI-Algorithmus steuert, wann welcher Fahrer mit welchem Fahrzeug wo sein muss in sehr kurzen Zeitfenstern. Eine eigenständige Gestaltung des Arbeitstages gibt es hier nicht mehr. Die Folge: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlieren die Identifikation mit ihrer Tätigkeit, die sie als fremdbestimmt empfinden. Die Arbeit ist für diese Menschen von der Berufung zum Job verkommen. Und in ihrer Freizeit setzen sich viele einem Konsum „sozialer“ Netzwerke aus, bei dem man sich fragen muss, ob ihnen das wirklich guttut.
Müssen wir auch die Beziehung Mensch-Maschine in Zukunft neu denken?
Koehler › Definitiv! Da Maschinen immer näher an uns heranrücken und zum Beispiel heutzutage sprachlich mit uns interagieren können, müssen wir uns Gedanken um das künftige Zusammenspiel machen. Dabei ist für mich eine Frage essentiell: Dient die Maschine dem Menschen, oder dient der Mensch der Maschine?