Herr Meyer, wie verändert die Digitalisierung unsere Arbeitswelt?
Prof. Dr. Bertolt Meyer › Sehr theoretisch ausgedrückt, könnte man sagen, dass jeder Schritt entlang der Wertschöpfungskette heute digital abgebildet wird. Jedes Produkt, jeder Arbeitsschritt, jede Dienstleistung hat einen digitalen Arbeitsanteil. Deshalb arbeiten immer mehr Menschen mit Tablets, Laptop oder anderen mobilen Endgeräten. Das bedeutet einerseits mehr Freiheit und Flexibilität, andererseits auch mehr Effizienz und Schnelligkeit. Das bietet sicher viele Vorteile für die Mitarbeiter und die Unternehmen. Es kann aber auch eine Arbeitsverdichtung und damit eng verbunden das Gefühl entstehen, nie mit der Arbeit fertig zu sein und unter stärkerem Druck zu stehen. Das gilt zunehmend auch für Berufsbilder, die lange als eher analog galten.
Haben Sie dafür ein anschauliches Beispiel?
Meyer › Wir arbeiten in einem Projekt mit einem Stadtwerk zusammen. Dort gibt es Bauarbeiter, die Rohrleitungen unter den Straßen erneuern. Lange bekamen sie morgens im Büro ihre Einsatzpläne und machten sich an die Arbeit. Abends wurden die Pläne mit den eingezeichneten Baustellen und erledigten Arbeiten zurückgebracht. Seit kurzem gibt es nun Tablets für die Bautrupps. Darauf sind sämtliche Aufgaben verzeichnet, der morgendliche Weg in die Zentrale fällt weg. Auch die Arbeitsfortschritte melden sie direkt am Tablet. Damit entfällt auch die abendliche Besprechung. Der Arbeitgeber ist natürlich begeistert – schließlich werden die Prozesse effizienter. Aus Perspektive der Bauarbeiter bedeutet das hingegen eine Arbeitsverdichtung und eine stärkere Belastung. Denn sie verbringen nun mehr Zeit mit körperlich sehr anstrengenden Arbeiten.
Gleichzeitig bieten die neuen Möglichkeiten aber auch Chancen?
Meyer › Selbstverständlich. Mobiles Arbeiten kann auch dazu beitragen, Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren. So berichtete mir eine hochrangige Managerin, dass sie ihre Anwesenheitszeiten im Büro reduziert hat, um ihre demenzkranke Mutter zu pflegen. Dafür nutzt sie den Abend und das Wochenende, um liegengebliebene Mails und Aufgaben abzuarbeiten. Mit starren 9-to-5-Strukturen wäre die Pflege ihrer Mutter nicht möglich. Dieses Beispiel verdeutlicht:
»Technologien sind nicht per se gut oder schlecht. Es geht vielmehr um ihre sinnvolle Nutzung.«
Wie groß ist dabei die Verantwortung der Unternehmen?
Meyer › Groß! Die Unternehmen müssen dafür sorgen, dass sich Arbeitsverdichtung durch effizientere Strukturen in Maßen hält und sich die Mitarbeiter von neuen Arbeitsprozessen nicht dauerhaft gestresst fühlen. Das ist gar nicht so einfach. Es herrscht ein großer Fachkräftemangel, der von der verbleibenden Belegschaft ausgeglichen werden muss. Das darf aber keine Ausrede für bedingungsloses Effizienzstreben sein. Es melden sich immer mehr Menschen wegen psychischer Probleme krank. Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen hat sich seit 2007 verdoppelt. Eng damit verknüpft ist auch eine gestiegene Belastung am Arbeitsplatz. Der dadurch entstehende wirtschaftliche Schaden liegt geschätzt bei jährlich 33,9 Milliarden Euro.
Was bedeuten diese Zahlen für die Unternehmen?
Meyer › Es ist ein Umdenken nötig. Mehr Effizienz auf dem Rücken der Mitarbeiter ist kein Zukunftsmodell. Stattdessen sollte das Wohlergehen der Kolleginnen und Kollegen zentraler Bestandteil der Unternehmensziele sein. Dafür müssen bei allen strategischen Entscheidungen die Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse bedacht werden. Das geschieht nicht aus reiner Nettigkeit oder für ein gutes Image. Es wird immer schwieriger, gute Leute zu finden. Fachkräfte durch ein schlechtes Betriebsklima oder zu hohen Druck zu verlieren, kann sich auf lange Sicht kein Unternehmen mehr leisten. Außerdem hat die Rücksichtnahme auch etwas mit einem nachhaltigen Umgang mit der Ressource Mensch zu tun.
»Wer auf seine Mitarbeiter achtet, hat die Chance, dass sie ihren Job auch mit Mitte 60 noch gut und zufrieden erledigen können.«