Professor Floridi, viele Menschen haben Angst vor einer Zukunft, in der Technologien wie die Künstliche Intelligenz (KI) eine dominante Rolle spielen. Fällt es uns schwer, mit neuen Technologien umzugehen, weil es keine Stopp-Taste gibt?
Prof. Luciano Floridi › Die gibt es in der Tat nicht. Was es aber gibt, ist politische und soziale Entscheidungskraft. Damit kann Druck ausgeübt werden. Wir dürfen nicht so tun, als wenn zwischen jetzt und dem, was in 1000 Jahren sein wird, nichts passieren wird. Jeden Tag können wir die Richtung ändern. Vielleicht bin ich zu optimistisch und glaube zu sehr an unsere Fähigkeit, Dinge zu regulieren. Für mich aber machen soziale Entscheidungen der Politik den Unterschied aus. Unternehmen handeln rational, sie bewegen sich im Rahmen der Gesetze dorthin, wovon sie sich die meisten Gewinne versprechen. Aber sie sind auch ziemlich flexibel, wenn es darum geht, ihr Verhalten zu ändern. Sie müssen ihnen nur sagen, was erlaubt ist und was nicht.
Am Anfang Ihres Buches „Die vierte Revolution“ sagen Sie: „Wollen wir nicht im Unklaren ertrinken, müssen wir unseren Verstand anstrengen und ein Floß bauen, während wir schwimmen.“ Was meinen Sie genau damit?
Floridi › Diese Metapher stammt von Otto Neurath, einem Philosophen. Er sprach darüber, dass wir nie einen Moment des Innehaltens haben, in dem wir aufhören, alles neu aufzubauen. Denn das passiert in unserer Gesellschaft ständig. Jede Veränderung, ob sozial, politisch oder technologisch, geschieht, weil wir Dinge voranbringen. Das ist wichtig zu erkennen, da wir sonst in zwei Fehler verfallen. Der eine ist zu denken, es gibt den perfekten Moment, um Dinge zu tun. Der andere ist, untätig zu bleiben, weil es ohnehin zu spät ist. Dabei ist, und das drückt die Metapher aus, der richtige Zeitpunkt genau der Zeitpunkt, in dem wir handeln. Wir reparieren wie das Floß oder das Schiff, während wir unterwegs sind.
Für Stephen Hawking war es eher „zu spät“. Er legte der Menschheit ein Raumfahrtprogramm nahe, bevor KI übernimmt. Waren seine Sorgen berechtigt?
Floridi › Diese Sorgen gehen in die falsche Richtung. Es gibt ernste Bedenken hinsichtlich Künstlicher Intelligenz oder allgemeiner über digitale Technologien, weil sie enorm leistungsfähig sind. Die Macht dieser Technologien bedingt, dass Fehler zu gewaltigen Konsequenzen führen. Gleichzeitig muss man sich fragen, ob diese Macht an sich negativ ist. Haben wir ein Monster entfesselt? Ich glaube nicht.
Dann können wir uns entspannen und alles ist in Ordnung?
Floridi › Keinesfalls. KI ist eine mächtige, transformative Technologie, die alles berührt, was wir tun. Sich angesichts dessen zurückzulehnen wäre reichlich dumm. Diese Technologien können für das menschliche Wohlbefinden, den sozialen Fortschritt und selbst für die Ökologie enormes leisten. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Wir kennen das Prinzip des Recycelns seit Jahrtausenden. Bis vor kurzem haben wir nichts weggeworfen, weil nichts wegzuwerfen war. Wir haben alles wiederverwertet, aber blieben arm. Erst später wandelte sich die Kreislaufwirtschaft zur Linearwirtschaft, in der die Menschen begannen, zu konsumierten und Dinge wegzuwerfen. Die Wegwerfgesellschaft machte uns wohlhabend, ermöglicht durch Technologie.
»Digitale Technologie wiederum kann uns dabei helfen, zur Kreislaufwirtschaft zurückzukehren bei Beibehaltung unseres Wohlstands. Künstliche Intelligenz kann bei diesem Projekt helfen.«
Floridi › Ist das eine gute Sache? Absolut. Aber dazu braucht es eben auch politischen Willen.
Wobei es oft heißt, dass Politiker nicht das Rüstzeug für das digitale Zeitalter haben. Sehen Sie es auch so?
Floridi › Ich denke, ja. Keine Frage, es ist kompliziert. Politiker müssen sich mit vielen Problemen und deren Wechselwirkungen auseinandersetzen. Dennoch haben wir ein Defizit an politischen Visionen und Richtungsentscheidungen. Jahrzehntelang wurde nichts gegen Verwerfungen im Internet unternommen. Jetzt haben wir das gleiche Problem mit der KI. Es ist ein großer Fehler zu denken, der Markt würde das selbst regulieren. Hier geht es um eine richtig große Sache. Sie können das nicht so laufenlassen wie mit den Stromversorgern. Gewinn generieren, Märkte schaffen und erst dann regulieren, das ist die Mentalität des 20. Jahrhunderts. Und Stromversorgung berührt unsere persönliche Identität längst nicht so stark wie KI. Hier geht es um Autonomie, Wohlbefinden und sogar die Identität von uns Menschen. Wir dürfen die Fehler, die wir mit dem Internet gemacht haben, mit KI nicht wiederholen. Dazu braucht es eine gesellschaftliche Anstrengung. Natürlich mit den Firmen an Bord.
Ist es sinnvoll, stärker gegen Monopole der Digitalwirtschaft vorzugehen?
Floridi › Bevor Sie Monopole reglementieren können, müssen Sie sie erst identifizieren. Reden wir über soziale Plattformen, Instant Messaging oder das Teilen von Videos und Bildern? Diese De-facto-Monopole sind heute enorm mächtig. Wenn wir früher über die Spielregeln gesprochen hätten, wären wir heute besser dran. Jetzt ist es desto schwieriger, je mehr Arbeitsplätze diese Unternehmen schaffen.
Der Versuch, Apple oder Amazon zu regulieren, scheitert regelmäßig an Ländern wie Irland oder Luxemburg, die von Steuereinnahmen der US-Unternehmen profitieren. Profitieren diese Unternehmen von der europäischen Disharmonie?
Floridi › Das tun sie vollständig. All dies ist Teil des politischen Defizits, unter dem wir leiden. Die EU sollte eine echte Union sein. Nicht nur vereint, wenn es für jeden bequem ist. Unterschiedliche Steuerregelungen im EU-Raum sind ein reales Problem. Denn ehrlich gesagt, würden Sie und ich nicht genau das tun, was Apple mit Irland getan hat? Wenn Sie wissen, dass Sie dort weniger Steuern zahlen?