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Gesellschaft

Vertrauen ist ein Erfolgsfaktor – auch im Digitalen

In Gemeinschaft leben, arbeiten und handeln – das funktioniert in intakten Wirtschaftssystemen gut, wenn die Menschen sich gegenseitig vertrauen. Digitale Technik kann viele dieser Prozesse verbessern, beschleunigen und neue Wege der Kollaboration schaffen. Doch was macht die Digitalisierung unserer Gesellschaft mit den Menschen, die hinter den smarten Systemen stehen? Und was macht es mit ihrem Vertrauen ineinander?

Von Michael Hasenpusch

Illustration von Menschen, die ihre Hände übereinander legen

Ob beim Einkaufen, beim Arztbesuch oder bei der Bundestagswahl – an vielen Stellen dient das Vertrauen als gesellschaftlicher Schmierstoff. Beim Kauf eines Brotes beim Bäcker laufen Übergabe von Ware und Geld simultan und vertrauensvoll. Weder Verkaufende noch Kaufende haben den geringsten Zweifel daran, dass sie das ihnen Zustehende am Ende bekommen werden, hier das Geld, dort das Lebensmittel. Auch der deutlich komplexere Kauf einer Immobilie funktioniert hierzulande reibungslos, weil beide Parteien dem eingespielten System aus Banken, amtlichem Grundbuch und staatlich geprüftem Notar vertrauen. Beide Beispiele aus der analogen Welt lassen erahnen, was in Abwesenheit dieses Vertrauens passieren würde: Zweifel würden die Fundamente des Zusammenlebens zernagen, einfache, alltägliche Vorgänge würden kompliziert, aufwendig und vielleicht sogar unmöglich werden. Mit weitreichenden Folgen für Komfort, Geschäftsleben und Bruttosozialprodukt. Ökonomen wie der 2019 verstorbene Steve Knack, der bei der Weltbank die Entwicklungsforschung leitete, gehen so weit, den Erfolg oder Misserfolg einer Volkswirtschaft überwiegend auf das dort herrschende Vertrauen zurückzuführen.

Systemvertrauen: ein Tatbestand des sozialen Lebens

Wobei Vertrauen nicht immer gleich Vertrauen ist. Das eine ist persönlich, beispielsweise zwischen Nachbarn, das andere ist institutionalisiert, zwischen Privatperson und System. Dieses Systemvertrauen hat der Soziologe Niklas Luhmann einst als einen elementaren „Tatbestand des sozialen Lebens“ bezeichnet. Als eine Idee, die lange vor der gegenwärtigen digitalen Epoche entstand, scheint es heute einen weit größeren Raum zu beanspruchen als jemals zuvor. Vom Shopping über die Partnerwahl, von der Suche nach dem günstigsten Energieanbieter bis zur Organisation sozialen Engagements oder politischer Bewegungen – vieles findet zunehmend auf digitalem Weg statt. Was hier mit ein paar Klicks oder Swipes auf Computer oder Smartphone abgewickelt wird, geht zwar im Sinne des vorausgesetzten Vertrauens weit über Beispiele wie den Brotkauf hinaus. Doch die Wirklichkeit zeigt, dass auf dieser Basis die erfolgreichsten Geschäftsmodelle unserer Zeit funktionieren, mit ihren langen und komplexen Wertschöpfungsketten, deren einzelne Glieder sich oft nicht kennen.

In der Digitalökonomie wohnt das Vertrauen als Geist in der digitalen „Maschine“. Technologien wie Vernetzung, Cloud-Computing, cyber-physische Systeme oder künstliche Intelligenz sind dabei, Gesellschaft und Wirtschaft weltweit tiefgreifend zu verändern. Die Frage ist: Wirklich weltweit? Denn in mancher Hinsicht scheint Deutschland dem berühmten gallischen Dorf zu ähneln, das sich gegen den Paradigmenwechsel stemmt. Dass die Digitalisierung in der Gesellschaft grundsätzlich angekommen ist, steht außer Frage. Die Deutschen haben Zugang zu digitalen Werkzeugen, stehen ihnen offen gegenüber und nutzen sie auch, das geht aus der Ausgabe 2021/2022 des Digital Index der Initiative D21 hervor, zu deren Mitgliedern auch Deloitte gehört. Allerdings bescheinigt er der Bevölkerung insgesamt nur einen Platz in der Gruppe der „Digital Mithaltenden“ – im Unterschied zur Spitzengruppe der „Digitalen VorreiterInnen“. Dramatischer als die mittelmäßige Platzierung sind die Ursachen, die zu ihr geführt haben: Den Unterschied zwischen Mithaltenden und VorreiterInnen machen Bildung und Einkommen. Trotz guter Ausgangsbedingungen ist die Digitalisierung in Deutschland also eine Frage von Gerechtigkeit und Chancengleichheit.

Industrie 4.0: das ewige Potenzial der Wirtschaft

Mit Blick auf die Wirtschaft sieht es in Deutschland nicht besser aus. Zwar gilt die „Industrie 4.0“ mit ihren Smart Factories, in denen Produktionsmaschinen, Logistiksysteme und Geschäftsprozesse digital vernetzt sind und sich weitestgehend autonom organisieren, als das Modell der Zukunft. Doch ist der griffige Terminus, der die vierte industrielle Revolution auf den Punkt bringen soll, schon über zehn Jahre alt. Und was heute vor allem mit Digitalisierung verbunden wird, ist noch immer das zu hebende Potenzial und nicht das Potenzial, aus dem bereits epochemachende Erfindungen hervorgingen. Zu diesem Ergebnis kam das Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), das im März 2022 vorgestellt wurde. „In digitalen Technologien (…) sind wir erschreckend schwach“, sagte Uwe Cantner, Vorsitzender der EFI und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena.

Im Detail liest sich das EFI-Gutachten tatsächlich dramatisch. Wie steht es beispielsweise mit dem E-Government und dem per Onlinezugangsgesetz festgelegten elektronischen Angebot aller öffentlichen Leistungen bis Ende 2022? Nicht mehr zu erreichen. Gibt es deutsche oder europäische Plattformanbieter im Konsumentengeschäft? Nein, und es wird sie wohl auch nie geben. Und die Lage im Industriegeschäft? Dort droht das Abstellgleis, ebenso wie für die deutsche Autoindustrie. Bei wichtigen Technologien ist Deutschland bereits abhängig von Importen aus den USA oder China, so das EFI-Gutachten. Dabei ist alles vorhanden, was sich eine Volkswirtschaft wünschen kann, um auch weiterhin vorne mitzuspielen: eine blühende Wissenschaftslandschaft, gewaltige Summen, die jährlich für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden, und eine lebendige Start-up-Szene.

Die Grenzen des Vertrauens in die Technik

Zumindest bei Business-to-Business-Plattformen (B2B) hat Deutschland laut EFI manch Vielversprechendes vorzuweisen. Dazu zählen eine Transaktionsplattform für Stahl und Metallprodukte, ein Data Intelligence Hub oder Internet-of-Things-Plattformen. Wie die großen Konsumentenplattformen der Tech-Unternehmen haben auch sie das Potenzial, neue Geschäftsmodelle mit innovativen Produkten und Services zu schaffen. Allerdings nehmen es Unternehmen bei Datenschutz und Cybersecurity wesentlich genauer als Konsumenten, da sie den ungewollten Abfluss ihres Wissens und anderer interner Informationen fürchten. So spielt auch hier Vertrauen eine entscheidende Rolle: jenes, das sich die Teilnehmenden digitaler Plattformen entgegenbringen, und jenes, das sie in die Plattform selbst haben. Denn sie steht mit ihrer technischen Infrastruktur, ihren Algorithmen und digitalen Prozessen für sichere und korrekte Abläufe gerade. Immerhin: Die mittlerweile weltweit respektierte strenge Digital-Regulatorik der EU ist hier möglicherweise ein Standortvorteil.

Eine der spannendsten Fragen der Digitalökonomie in diesem Zusammenhang bleibt, ob und in welchem Umfang sich Vertrauen durch technische Systeme abbilden lässt. Einst schien die Blockchain-Technologie mit ihrem digitalen, dezentralisierten und unveränderlichen Kassenbuch darauf eine abschließende Antwort zu geben. Nach der anfänglichen Euphorie etabliert sich auch hier ein Verständnis von Vertrauen, das sich nicht vollständig auf Technik verlässt. Technische Systeme werden – noch – von Menschen entworfen oder programmiert, die sich Vertrauen verdienen müssen. Außerdem sind komplexe technische Systeme – gewollt oder ungewollt – nie fehlerfrei. Der menschliche Eingriff bleibt weiterhin eine Option. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Privatpersonen wie Geschäftspartner auch in Zukunft auf bilaterales und systemisches Vertrauen werden setzen müssen.

Mag die digitale Technik vieles unterstützen, vereinfachen und beschleunigen, braucht sie doch eine sinnvolle und einklagbare Regulatorik. Marktteilnehmer dürfen sich nicht als profitorientierte Einzelkämpfer sehen, sondern müssen sich als Partner in einem gesellschaftlichen System verstehen und bereit sein, dafür Verantwortung zu übernehmen. Wenn sich also deutsche Unternehmen – wie auf dieser Plattform seit 2019 geschehen – zu digitaler Verantwortung bekennen, die ihre Rolle in der digitalen Welt reflektiert, dann ist das ein wichtiger, Vertrauen schaffender Schritt in diese Richtung.