Ob beim Einkaufen, beim Arztbesuch oder bei der Bundestagswahl – an vielen Stellen dient das Vertrauen als gesellschaftlicher Schmierstoff. Beim Kauf eines Brotes beim Bäcker laufen Übergabe von Ware und Geld simultan und vertrauensvoll. Weder Verkaufende noch Kaufende haben den geringsten Zweifel daran, dass sie das ihnen Zustehende am Ende bekommen werden, hier das Geld, dort das Lebensmittel. Auch der deutlich komplexere Kauf einer Immobilie funktioniert hierzulande reibungslos, weil beide Parteien dem eingespielten System aus Banken, amtlichem Grundbuch und staatlich geprüftem Notar vertrauen. Beide Beispiele aus der analogen Welt lassen erahnen, was in Abwesenheit dieses Vertrauens passieren würde: Zweifel würden die Fundamente des Zusammenlebens zernagen, einfache, alltägliche Vorgänge würden kompliziert, aufwendig und vielleicht sogar unmöglich werden. Mit weitreichenden Folgen für Komfort, Geschäftsleben und Bruttosozialprodukt. Ökonomen wie der 2019 verstorbene Steve Knack, der bei der Weltbank die Entwicklungsforschung leitete, gehen so weit, den Erfolg oder Misserfolg einer Volkswirtschaft überwiegend auf das dort herrschende Vertrauen zurückzuführen.
Systemvertrauen: ein Tatbestand des sozialen Lebens
Wobei Vertrauen nicht immer gleich Vertrauen ist. Das eine ist persönlich, beispielsweise zwischen Nachbarn, das andere ist institutionalisiert, zwischen Privatperson und System. Dieses Systemvertrauen hat der Soziologe Niklas Luhmann einst als einen elementaren „Tatbestand des sozialen Lebens“ bezeichnet. Als eine Idee, die lange vor der gegenwärtigen digitalen Epoche entstand, scheint es heute einen weit größeren Raum zu beanspruchen als jemals zuvor. Vom Shopping über die Partnerwahl, von der Suche nach dem günstigsten Energieanbieter bis zur Organisation sozialen Engagements oder politischer Bewegungen – vieles findet zunehmend auf digitalem Weg statt. Was hier mit ein paar Klicks oder Swipes auf Computer oder Smartphone abgewickelt wird, geht zwar im Sinne des vorausgesetzten Vertrauens weit über Beispiele wie den Brotkauf hinaus. Doch die Wirklichkeit zeigt, dass auf dieser Basis die erfolgreichsten Geschäftsmodelle unserer Zeit funktionieren, mit ihren langen und komplexen Wertschöpfungsketten, deren einzelne Glieder sich oft nicht kennen.
In der Digitalökonomie wohnt das Vertrauen als Geist in der digitalen „Maschine“. Technologien wie Vernetzung, Cloud-Computing, cyber-physische Systeme oder künstliche Intelligenz sind dabei, Gesellschaft und Wirtschaft weltweit tiefgreifend zu verändern. Die Frage ist: Wirklich weltweit? Denn in mancher Hinsicht scheint Deutschland dem berühmten gallischen Dorf zu ähneln, das sich gegen den Paradigmenwechsel stemmt. Dass die Digitalisierung in der Gesellschaft grundsätzlich angekommen ist, steht außer Frage. Die Deutschen haben Zugang zu digitalen Werkzeugen, stehen ihnen offen gegenüber und nutzen sie auch, das geht aus der Ausgabe 2021/2022 des Digital Index der Initiative D21 hervor, zu deren Mitgliedern auch Deloitte gehört. Allerdings bescheinigt er der Bevölkerung insgesamt nur einen Platz in der Gruppe der „Digital Mithaltenden“ – im Unterschied zur Spitzengruppe der „Digitalen VorreiterInnen“. Dramatischer als die mittelmäßige Platzierung sind die Ursachen, die zu ihr geführt haben: Den Unterschied zwischen Mithaltenden und VorreiterInnen machen Bildung und Einkommen. Trotz guter Ausgangsbedingungen ist die Digitalisierung in Deutschland also eine Frage von Gerechtigkeit und Chancengleichheit.
Industrie 4.0: das ewige Potenzial der Wirtschaft
Mit Blick auf die Wirtschaft sieht es in Deutschland nicht besser aus. Zwar gilt die „Industrie 4.0“ mit ihren Smart Factories, in denen Produktionsmaschinen, Logistiksysteme und Geschäftsprozesse digital vernetzt sind und sich weitestgehend autonom organisieren, als das Modell der Zukunft. Doch ist der griffige Terminus, der die vierte industrielle Revolution auf den Punkt bringen soll, schon über zehn Jahre alt. Und was heute vor allem mit Digitalisierung verbunden wird, ist noch immer das zu hebende Potenzial und nicht das Potenzial, aus dem bereits epochemachende Erfindungen hervorgingen. Zu diesem Ergebnis kam das Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), das im März 2022 vorgestellt wurde. „In digitalen Technologien (…) sind wir erschreckend schwach“, sagte Uwe Cantner, Vorsitzender der EFI und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena.
Im Detail liest sich das EFI-Gutachten tatsächlich dramatisch. Wie steht es beispielsweise mit dem E-Government und dem per Onlinezugangsgesetz festgelegten elektronischen Angebot aller öffentlichen Leistungen bis Ende 2022? Nicht mehr zu erreichen. Gibt es deutsche oder europäische Plattformanbieter im Konsumentengeschäft? Nein, und es wird sie wohl auch nie geben. Und die Lage im Industriegeschäft? Dort droht das Abstellgleis, ebenso wie für die deutsche Autoindustrie. Bei wichtigen Technologien ist Deutschland bereits abhängig von Importen aus den USA oder China, so das EFI-Gutachten. Dabei ist alles vorhanden, was sich eine Volkswirtschaft wünschen kann, um auch weiterhin vorne mitzuspielen: eine blühende Wissenschaftslandschaft, gewaltige Summen, die jährlich für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden, und eine lebendige Start-up-Szene.