Herr Thrun, als Vordenker und Silicon-Valley-Ingenieur propagieren Sie schon seit langem einen beeindruckenden Fortschrittsoptimismus. Nun stecken wir mitten in einer globalen Pandemie. Wie nehmen Sie die Corona-Krise wahr?
Sebastian Thrun › Für mich war und ist das Coronavirus eine Generalprobe für die globalen Herausforderungen, die uns vor allem durch den Klimawandel noch bevorstehen. Wir wissen schon lange, dass wir hier nur eine Chance haben, wenn wir weltweit zusammenarbeiten. Und nun haben wir gesehen, wie schwierig das ist. Und wie erschreckend schlecht wir in diesem Test abgeschnitten haben. Das war deutlich mangelhaft, wenn nicht sogar ungenügend.
Das hört sich nun nicht mehr sehr optimistisch an.
Thrun › Nur, wenn man nicht sieht, wie enorm uns die Krise natürlich auch weiterbringen kann, wenn wir daraus lernen. Die Lektion ist: Globalisierung bedeutet nicht nur den Austausch von Waren, Geld und Kulturen, sondern auch das gemeinsame Adressieren von Risiken. Das sollte und wird uns in Zukunft anspornen, noch besser mit solchen Herausforderungen umzugehen. Ich glaube fest daran, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen.
»Globalisierung bedeutet nicht nur den Austausch von Waren, Geld und Kulturen, sondern auch das gemeinsame Adressieren von Risiken.«
Was macht Sie da so sicher?
Thrun › Denken Sie an den enormen Innovationsschub, den wir gerade in vielen Bereichen der Gesellschaft erleben. Plötzlich nutzen fast alle Videokonferenzen, haben die Fahrt zum Büro wie selbstverständlich ersetzt durch das Einschalten des Computers. Und zwar nicht nur, um das eigene Arbeitsumfeld zu organisieren, sondern auch als Ersatz für all die Geschäftsreisen, die wir früher mehr oder weniger erlitten haben. Und auch in der Akzeptanz digitaler Tools in Schulen und Universitäten hat uns die Krise einen großen Schritt weitergebracht.
Das dürfte Sie, als Mitgründer der Online-Lernplattform Udacity, besonders gefreut haben. 2011 lösten Sie mit der Idee, Vorlesungen amerikanischer Elite-Universitäten kostenfrei ins Netz zu stellen, einen Hype um sogenannte Massive Open Online Courses (MOOCs) aus. Als die Nutzerzahlen allerdings immer kleiner und die Quote der Abbrecher immer größer wurde, schien das Konzept schon wenige Jahre später zum Scheitern verurteilt.
Es stimmt, wir hatten erhebliche Startschwierigkeiten mit Udacity. Und man kann und sollte das Thema Online-Lehre unbedingt differenziert sehen. Trotzdem glaube ich, dass die Grundidee immer richtig war. Nämlich der Gedanke, dass man Ausbildung demokratisieren muss, dass es völlig inakzeptabel ist, weite Teile der Welt komplett von hochwertigen Bildungsinhalten auszuschließen. Für den Bereich moderne IT-Technologien, auf den wir uns bei Udacity spezialisiert haben, gilt immer noch: Wenn Sie in Afrika, Indonesien, im Mittleren Osten, in größten Teilen Chinas oder in Indien aufwachsen, haben Sie auf klassischem Weg, also über Universitäten, keine Chance, sich dieses Wissen anzueignen. Weil es solche Ausbildungen in diesen Regionen einfach nicht gibt.
Es geht Ihnen also darum, Fehler in der Bildungsinfrastruktur auszugleichen?
Thrun › Richtig. Wir nutzen Technologie, um mehr Menschen Inhalte und Wissen zur Verfügung zu stellen. Ein Konzept, das uns ja eigentlich bestens vertraut ist und das uns schon phantastische Dienste erwiesen hat, beispielsweise in Form des Buchdrucks oder des Films. Das hat uns in der Demokratisierung der Bildung massiv vorangebracht, von einer weitestgehend ungebildeten Weltbevölkerung im Mittelalter bis in moderne Zeiten, in denen über 90 Prozent der Kinder weltweit eine Schulausbildung erhalten. Das ist natürlich eine tolle Leistung. Trotzdem müssen wir jetzt einen Schritt weiter gehen und verstehen, dass Bildung in Zukunft längst nicht mehr an bestimmte Institutionen und Lebensabschnitte gebunden sein wird.
Sondern?
Thrun › Dass wir in Zukunft lebenslang lernen müssen und wollen. Zum einen, um mit einer immer schnelleren technologischen Entwicklung mithalten zu können. Inzwischen kooperieren viele große Firmen mit uns, weil sie gar nicht wissen, wie sie ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Feldern wie KI oder Cloud-Technologie sonst weiterbilden könnten. Universitäten sind hier viel zu langsam. Und zum anderen glaube ich fest daran, dass es ein menschliches Grundbedürfnis ist, sich weiterzubilden und produktiv zu sein. Warum sollte man heute ab 40 keine Möglichkeit mehr haben, sich in neue Wissensfelder einzuarbeiten und sich neue Jobchancen zu eröffnen?