Deutschland und Digitalisierung, das sind zwei Wörter, die auch Anfang 2023 nur langsam zusammenkommen. Besonders deutlich wird das im Bildungssektor. Zwar stehen im Rahmen des 2019 beschlossenen Digitalpakts Schule der Bundesregierung insgesamt 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung, um Deutschland im Bereich digitale Bildung fit zu machen. Aber das Tempo des Mittelabflusses stimmt noch nicht, wie Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger zur Veröffentlichung der aktuellen Zahlen des BMBF im September letzten Jahres zugab. Erst 1,5 Milliarden Euro wurden bislang ausgegeben.
Warum das so ist und was man daran ändern könnte, ist eine der zentralen Fragen, die schon seit Jahren auf vielen Konferenzen zum Thema digitale Bildung verhandelt werden. Eine der größten ist die des Forums Bildung Digitalisierung, einer Initiative von aktuell neun deutschen Stiftungen. Die letzte „Konferenz Bildung Digitalisierung“ fand im November 2022 in Berlin statt. Dort hatte Keynote-Speakerin Julia Borggräfe, ehemalige Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Themen Digitalisierung und Arbeitswelt, eine recht klare Antwort. Das föderale Bildungssystem in Deutschland mit seinen verschiedenen Zuständigkeitsebenen sei einfach unfassbar komplex, so Borggräfe. Und viele Akteure hätten noch nicht begriffen, wie grundlegend die Transformation eigentlich ist, vor der wir stehen.
Beamer und Greenscreens sind erst der Anfang
Besonders augenfällig werde das angesichts des während der Corona-Lockdowns zu beobachtenden Digitalisierungsschubs, sagt Micha Pallesche, Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe, der ebenfalls an der Konferenz teilnahm. „Ich spreche gerade mit vielen Schulleiterinnen und -leitern, die mir sagen: Was machen wir jetzt eigentlich mit diesem Lernmanagementsystem, das wir uns im Lockdown angeschafft haben? Das brauchen wir ja eigentlich nicht mehr, der Unterricht findet ja jetzt wieder in Präsenz statt“, so Micha Pallesche. „Anstatt sich zu fragen: Wie kann ich denn meinen Präsenzunterricht so weiterentwickeln, dass ich zum Beispiel Lernmanagementsysteme sinnvoll nutzen kann?“
Vor rund 15 Jahren haben er und sein Team begonnen, digitale Medien intensiver im Unterricht einzusetzen. 2017 wurde die Schule als eine der ersten in das Smart School Netzwerk des Bitkom aufgenommen. Damit zeichnet der Digitalverband Schulen aus, die sich auf vorbildliche Weise mit digitaler Infrastruktur und Geräten ausstatten, diese in neuen Lernkonzepten didaktisch sinnvoll einsetzen und Lehrkräfte entsprechend qualifizieren. Inzwischen sei man, so Pallesche, eigentlich bereits in der postdigitalen Phase angekommen. „Bei uns spricht niemand mehr von Beamern oder Greenscreens. Die sind einfach da und werden genutzt, um eine neue Art des Unterrichts zu etablieren. Denn genau darum geht es letztlich.“
Digitaltechnik als Verstärker
Leider ist genau diese Erkenntnis längst nicht in der Breite angekommen. „Wir erleben in den meisten Schulen immer noch eine Digitalisierung, in der bunte Quizaufgaben, Belehrungsvideos, Onlinekurse und digitale Wandtafeln häufiger vorkommen als kollaborative Projekte, personalisiertes Lernen und breit angelegte Schulentwicklung“, sagt der Pädagoge und Unternehmer Jöran Muuß-Merholz, der Schulen zu digitaler Bildung berät. Denn digitale Medien verändern Schulen nicht per se in eine bestimmte Richtung, so Muuß-Merholz: „Lernen wird durch digitale Medien nicht automatisch einfacher oder individueller oder effizienter oder unpersönlicher.“ Um wirklich voranzukommen, müsste man Lehr-Lernsettings und darüber hinaus auch Bildungsziele und Lerninhalte neu denken. „Dann können digitale Medien als extrem mächtige Verstärker fungieren.“
»Ohne technische Ausstattung finden die meisten Schulen nur schwer Zugang zu all den spannenden Unterrichtsformaten, die durch digitale Mittel möglich werden.«
Anne Sliwka Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg
Nur: Das Neu-Denken von Unterricht im deutschen Bildungssystem ist alles andere als leicht. Vorreiter wie die Ernst-Reuter-Schule benötigen dazu im Schnitt rund zehn Jahre. „Freiräume für Unterrichtsentwicklung sind im Lehreralltag eigentlich nicht vorgesehen, auch kollaboratives Arbeiten unter den Lehrkräften findet noch viel zu wenig statt“, sagt Anne Sliwka, Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Und auch wenn es richtig sei, am Ende immer die Pädagogik im Blick zu behalten – „ohne technische Ausstattung finden die meisten Schulen eben doch nur schwer Zugang zu all den spannenden Unterrichtsformaten, die durch digitale Mittel möglich werden“.
Transformation braucht Zeit
Den Frust, dass es beim Digitalpakt nicht so recht vorangeht, kann Udo Michallik sehr gut nachvollziehen. Die Kritik, man würde sich zu sehr auf die Technik fokussieren, aber den Perspektivwechsel hin zu einer neuen Pädagogik nicht mitgehen, weist der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz (KMK) allerdings zurück. „Von der KMK liegt bereits seit 2016 eine Gesamtstrategie zur Bildung in der digitalen Welt vor, in der wir etwa genau definiert haben, welche Kompetenzen es in Zukunft im Kontext der Digitalisierung zu fördern gilt. Und wir haben bereits damals klar gesagt: Das Pädagogische muss immer vor dem Technischen stehen.“
Noch dazu liege seit letztem Jahr ein ergänzendes Papier vor, das speziell die veränderten Lehr- Lernsettings in einer Kultur der Digitalität in den Blick nimmt. Aber dies alles brauche eben seine Zeit. „Wir befinden uns in einem massiven Transformationsprozess, in dem wir zudem spät dran sind. Länder wie Dänemark sind uns da bis zu 20 Jahre voraus. Wir können nicht erwarten, einfach von heute auf morgen einen Schalter umzulegen und dann funktioniert das.“